Ausgerechnet die zu Rettende scheint vom ersten Moment an verloren. Kaum aus dem Auto gestiegen, taucht die zehnjährige Alma (Laeni Geiseler) in die Sagenwelt von Rotten ein. Das Kind scheint einer Bestimmung zu folgen. Es führt sie hinauf zum Berg. Vater Matthi (Robert Stadlober) scheint das kaum zu bemerken, aber Almas Mutter Lucia (Brigitte Hobmeier) nimmt jede feinste Erschütterung wahr. Während Matthis Eltern (Maria Hofstätter, Karl Fischer) den heimgekehrten Sohn und ihren Enkel begeistert empfangen, geraten Luzia und Alma in eine andere Welt. Hier die Dynastie von Matthis Vater, Hotelier und Seilbahnbauer Bruno Hofer, dort die bedrohte Stille der Natur, in der das Gestern und das Heute miteinander flüstern, in der zwei Lebende den Toten begegnen und in der Alma die Leiche der lang verschollenen Marianne im Eis entdeckt. Das Kind weiß wohl, dass das kein Unfall war. Mariannes Mutter Aurelia (Sylvia Eisenberger) baut die Brücke in jene Sagenwelt, in der sie selbst für die einen eine gute Fee, für andere die „Hex von Rotten“ ist. Der Zuschauer durchdringt all diese Welten an Lucias Seite. Die Ärztin aus der Stadt ist mit einem sehr feinen Sensorium angereist. „Woher kommt eigentlich das viele Wasser?“ fragt sie unvermittelt ihren Kollegen, dessen Arztpraxis in Rotten sie übernehmen will.
Die Bedrohung ist in „Schnee“ allgegenwärtig. Das Haus, das den Salingers zur Heimat werden soll, ist aus (zu) dunklem Holz gebaut. Im Keller dröhnt und pumpt ein Heizkessel, als müsse er in der Nacht das ganze Dorf verdauen. Im Badezimmer treibt der Schimmel seltsam schnell Blüten und hölzerne Vertäfelungen vor Fassade und Fenster machen das Haus einer Festung gleich. Draußen ist derweil ein Knirschen überall. Nie zu auffällig, aber immer wahrnehmbar. Was sich über die sorgfältige Ton-Dramaturgie als Subtext mitteilt, findet seine optische Entsprechung bereits im Vorspann. Dort rückt der Berg als abstrakte Dreiecksfläche ins Bild, wird von Diagonalen durchtrennt und verschiebt sich an ihnen entlang. Was sich im Vorspann als abstrakt-vereinfachtes Spiel andeutet, birgt in der Handlung reale Schrecken: Am schmelzenden Gletscher bei Rotten gibt das Eis eine Leiche frei. Auch der Keller im Haus muss einst ein Tatort gewesen sein. Zwischen den Erkundungen in all diese dunklen Winkel zeigt die Totale das fiktive Rotten und den dahinter aufragenden „Muttstein“. Ein Dorf in kalten Braun-Schattierungen und Bergwände in majestätischem Grau. Die Totale wirkt nicht übertrieben dramatisch. Trotzdem gleicht dieser Ort eher der fiktiven norwegischen Kleinstadt Edda aus der Netflix-Serie „Ragnarök“ als einem Bergidyll in Südtirol.
Zur kalten Postkartenansicht von Rotten gehört ein tiefer Graben, ein Riss. Sinnbildlich teilt er die, die den Berg sprengen und die Seilbahn bauen wollen, von denen, die das Wispern des Berges vernehmen und davor warnen. Spätestens in Episode fünf muss das Publikum nicht mehr sortieren. Dramaturgisch ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um auf einige Thriller-Elemente zu vertrauen. Die Bergwelt, die unter der Regie von Catalina Molina in den ersten beiden Folgen noch als zu eroberndes, Furcht einflößendes Gebiet rund um Rotten aufragt, ist Alma und Lucia längst zu einer vertrauten Welt geworden, wenn auch ohne sicheren Halt. In den letzten beiden Episoden liefert „Schnee“ spannende Hetzjagden und letzte Sicherheiten verwehende Lawinenbilder (Kamera: Leah Striker). Wetterbedingt wurden die letzten Folgen übrigens vor den ersten gedreht. Allein die Farbbearbeitung des zum Finale bedrohlich leuchtenden Bergmassivs fällt allzu pastell-künstlich aus. Der überzeugend durch alle filmischen Komponenten erzeugten „Schnee“-Welt tut das keinen Abbruch.
Gleiches gilt für den Cast. Brigitte Hobmeier, jüngst mit sehr roten Lippen als Herrscherin der schönen Träume in „Tatort – Murot und das Paradies“ zu sehen, balanciert verlässlich auf dünnem Eis. Sie zittert, friert und zweifelt. Neben dieser Lucia hat Robert Stadlober alias Matthi genug damit zu tun, sich als heimgekehrter Sohn ein zweites Mal von seinen Übereltern zu befreien. Abseits dieser, von toxischen Familiendynamiken erschütterten Welt ist ein pragmatisch-gelassener Kommissar der unverzichtbare Gegenpart im Figurengefüge. Stipe Erceg spielt Ermittler Prochazka mit einer Lässigkeit, die glauben macht, sich langweilen zu können, sei die beste Art, einen Fall zu lösen. So selten er sich im Dorfgasthof einen Kaffee servieren lässt oder so kurz wie möglich in der Kälte steht, so präsent ist er als Vertreter einer Welt, die auch Büros und hohe Häuser kennt. Prochazka beherrscht den Tonfall der Dörfler und spricht doch eine andere Sprache. Er gibt sich freundlich und misstraut hier grundsätzlich jedem. Er bleibt gern fremd in dieser Welt. Wer will kann ihn als charmant-klugen Stellvertreter des Zuschauers sehen. (Text-Stand: 29.10.2023)