Der Mann ist ein seelisches Wrack und weiß nicht mal, warum. Bilderfetzen lassen allerdings erahnen, was ihn vor geraumer Zeit aus der Bahn geworfen hat; die Aufnahmen von brennenden Buden und in Panik flüchtenden Menschen wecken umgehend Erinnerungen an den Terroranschlag am Berliner Breitscheidplatz 2016. Mike Atlas trägt zwar den Namen jenes Titanen, der das Himmelsgewölbe mit seinen Schultern stützt, aber der beurlaubte Hauptkommissar und frühere Top-Ermittler hat einen Totalabsturz hinter sich; als sein Wohnwagen abgefackelt wird, ist er endgültig obdachlos. Ausgerechnet dieses Ereignis lässt ihn jedoch wieder zu sich kommen: Der Angreifer gehört zum Basher-Clan. Mike war maßgeblich daran beteiligt, dass Mussah Basher, der sich nun im Gefängnis die Pulsader aufgeschnitten hat, wegen der Ermordung eines Richters verurteilt worden ist. Dem Ex-Polizisten schwant, dass rund um die Verhaftung irgendwas gründlich schief gelaufen ist.
„Schlafende Hunde“ basiert auf einem israelischen Vorbild, dessen internationaler Titel, „The Exchange Principle“ (2016), auf die sogenannte Locard’sche Regel anspielt. Sie ist eins der wichtigsten Prinzipien der modernen Forensik: Ein Kontakt zwischen zwei Objekten hinterlässt immer wechselseitige Spuren; der Franzose Edmond Locard hat als einer der ersten wissenschaftliche Methoden für die Aufklärung von Verbrechen genutzt. KDD-Mitglied Mike war zwar kein Kriminaltechniker, hatte aber einen Ruf als „Trüffelschwein“, weil er Spuren entdeckte, die andere übersehen haben; zum Beispiel die Haare von Mussah Basher in der Einfahrt zum Haus des erschossenen Richters. Aber warum hat sich der junge Mann, der stets seine Unschuld beteuert hat, das Leben genommen? Und weshalb kann sich Mike nur noch bruchstückhaft an die Ereignisse erinnern?
All’ das wäre Stoff genug für eine packende Krimiserie, doch Max Riemelt muss sich das Zentrum der sechsteiligen Netflix-Serie teilen: Luise von Finckh, zuletzt als Freundin der Titelfigur in der Disney+-Serie „Sam – ein Sachse“ (2023) zu sehen, spielt die Mitarbeiterin der Oberstaatsanwältin (Melika Foroutan), die der Clan-Kriminalität den Kampf angesagt hat und aus ihren Ressentiments gegen Männer mit arabischen Wurzeln keinen Hehl macht. Die von Mike entdeckten Indizien gegen Mussah Basher kamen ihr gerade Recht. Die junge Assessorin soll den Suizid bearbeiten, eine reine Formsache, aber Jule stolpert über gleich mehrere Ungereimtheiten, und so bilden die Juristin und der ausgebrannte Polizist, der seine Familie verlassen hat und seither auf der Straße lebt, ein ungewöhnliches Team, das sich fragen muss: Sind wir wirklich einem ungeheuren Verbrechen auf der Spur? Oder ist das bloß „Verschwörungskäse“, wie der Kollege (Helgi Schmidt) vom LKA mutmaßt, der Jules Eifer dennoch mit großer Sympathie verfolgt? Aber auch er ist nicht der, der er zu sein vorgibt.
Christoph Darnstädt, Autor unter anderem der ZDF-Krimireihe „Der Kommissar und…“ mit Roeland Wiesnekker, hat die israelische Vorlage klug von Tel Aviv nach Berlin übertragen und um Aspekte wie die Clan-Kriminalität ergänzt. Die personelle Konstellation stammt jedoch aus dem Original. Eine weitere interessante Figur ist Mikes Ex-Partner, den Carlo Ljubek vielschichtig verkörpert: Als wahrer Freund widersteht Zari der Versuchung, die Einsamkeit von Mikes Frau (Peri Baumeister) auszunutzen; als er schließlich doch schwach wird, geht die Initiative von ihr aus. Er sorgt auch dafür, dass die neue Kollegin Britney (Melodie Simina) keinen Ärger bekommt, als bei einem Einsatz ein kleines Mädchen verletzt wird. Zari kann allerdings auch anders, weshalb lange unklar bleibt, auf wessen Seite er wirklich steht.
Der Reiz der Geschichte resultiert zwar nicht zuletzt aus der anfänglich verwirrenden Unüberschaubarkeit, aber manch’ ein Nebenstrang hätte sich auch problemlos streichen lassen. Natürlich ist es aller Ehren wert, dass Britney eine verflossene Freundin heiraten möchte, um das Kind adoptieren zu können, aber mit dem Handlungskern hat das rein gar nichts zu tun, im Gegensatz zu den Szenen mit Mikes Teenager-Tochter: Tinka, von Tara Africah Corrigan ganz famos verkörpert, wird in den Fall hineingezogen, als ein zwielichtiger Privatdetektiv (Bernd Hölscher) ihr Vertrauen gewinnt, um auf diese Weise Kontakt zu ihrem Vater aufzunehmen. Auch Jules Affäre mit einem Richter (Moritz Führmann) ist mehr als bloß ein Geplänkel am Rande. Eine kleine und gar nicht mal unsympathische Rolle spielt Martin Wuttke als Anwalt des Clans, und selbstredend hat es seine Bewandnis, dass irgendwann wie zufällig Tonio Arango durchs Bild wandert: Der obdachlose „Aldi“ wird schließlich dafür sorgen, dass sich Mike endlich seinen Dämonen stellt. Für Atmosphäre und Action sorgen vor allem die Einsätze des KDD-Teams, das täglich in den Abgrund blickt. Die Bereitschaftspolizisten werden das Grauen nie vergessen, das sich ihnen auf dem Weihnachtsmarkt geboten hat. Mikes Kollege Socke (Antonio Wannek) wird immer noch von dem Geruch verfolgt, der damals in der Luft lag: „So riecht für mich die Hölle.“
Die Bildgestaltung ist wie bei den meisten Streamingdienst-Produktionen hochwertig. Stephan Lacant und Francis Meletzky, die sich die Regie geteilt haben, durften einen großen optischen Aufwand betreiben; die Farbgebung (Kamera: Jens Harant, Bella Halben) ist für dieses Genres überraschend warm und bunt. Eine besondere Freude bereiten die sorgsam konzipierten Szenenwechsel, wenn sich Mike beispielsweise in der S-Bahn an den Weihnachtsmarkteinsatz erinnert und in seinem Gesicht bereits der Widerschein des Blaulichts zu sehen ist. Den für solche Serien unverzichtbaren Sog verdanken die sechs selbstredend mit cleveren Cliffhangern endenden Episoden jedoch vor allem der jeweiligen Binnendramaturgie sowie der Komplexität der Handlung, die gegen Ende eine völlig unerwartete Wende nimmt und zudem für einen echten Schock sorgt. Jede Antwort wirft neue Fragen auf, zumal alle, die Licht ins Dunkel bringen könnten, prompt umgebracht werden. Den Rest besorgt die Thriller-Musik von Dürbeck & Dohmen. (Text-Stand: 5.6.2023)