Regisseurin Bettina Blümner empfängt den Zuschauer in „Scherbenpark“ mit einer tristen Plattenbauatmosphäre. Und doch ist von Beginn an spürbar, dass sich hier keine bedrückende Sozialstudie mit ordentlicher Portion Elendsvoyeurismus entfalten wird, dass es hier nicht um einen effekthascherischen Blick auf die Jugend des Präkariats geht. Es ist nicht zuletzt die melancholische wie auch hoffnungsvolle, lebensbejahende Filmmusik, die wiederholt darauf hindeutet, dass es in „Scherbenpark“ optimistischer zugeht als der Titel vermuten ließe.
Doch das erste neunzigminütige Drehbuch von Katharina Kress, eine Adaption des Romans von Alina Bronsky, beginnt zunächst alles andere als versöhnlich und präsentiert Heldin Sascha ohne Umschweife, wie sie leibt und lebt: aggressiv, taff und kampfbereit. Die Fäuste im übertragenen Sinne stets erhoben, um sich all den Anfeindungen des Lebens zu stellen und ihnen nicht als Opfer, sondern als Täterin zu begegnen. Mit nur 17 Jahren fühlt sich Sascha (Jasna Fritzi Bauer, „Ein Tick anders“) bereits erwachsen, verantwortlich für ihre jüngeren Halbgeschwister und gänzlich auf sich alleine gestellt. Die Mutter wurde von ihrem Lebensgefährten ermordet, der Vater – von Sascha nur als Erzeuger betitelt – lebt im Ausland. Doch Sascha ist mehr als nur eine bedauernswerte russlanddeutsche Waise. Sie ist klug und sie hat einen Plan, auch wenn dieser vorerst darin besteht, den Stiefvater zu ermorden und eine von Frust und Enttäuschung genährte Biographie der Mutter zu verfassen.
„Scherbenpark“ ist im Kern die Coming of Age Geschichte einer jungen Frau im Milieu eines Plattenbau-Ghettos. Die Begegnung mit dem Journalisten Volker (Ulrich Noethen) und seinem Sohn Felix (Max Hegewald) zwingt Sascha, ihre pauschalisiert negative Meinung über die männliche Spezies zu überdenken und zur gleichen Zeit anzuerkennen, dass sie selbst noch keine Erwachsene und zuweilen auf den Beistand anderer Menschen angewiesen ist. Ganz alleine geht es eben doch nicht, auch wenn wir Hauptdarstellerin Jasna Fritzi Bauer Sätze wie „Ich hab nie Angst“ oder „Mir kann niemand wehtun“ ohne Zweifel abnehmen. Bauer spielt die Heldin dieser Geschichte mit derart viel Kraft, dass sie ihre erwachsenen Kollegen zuweilen blass erscheinen lässt. Auch Spielpartner Max Hegewald („Arnes Nachlass“) kann zu dieser Schauspielenergie nicht aufschließen, was jedoch durchaus seiner Figur entspricht, bei der es sich um einen ungewöhnlich zarten und verletzlichen jungen Mann handelt. Insbesondere in der Interaktion der beiden jungen Menschen entwickelt „Scherbenpark“ aus der Reihe „Debüt im Dritten“ große Authentizität, in der sich eine gehörige Portion Humor versteckt. Die zögerlichen und indirekten Annäherungsversuche zwischen Sascha und Felix verströmen glaubwürdig die sexuelle Verunsicherung der Pubertät und geben dem Zuschauer Gelegenheit, sich ein Schmunzeln nicht verkneifend, in eigenen Erinnerungen zu schwelgen.
Als Kontrast zu dieser zärtlichen Begegnung fungiert Saschas Freundschaft zu dem Nachbarsjungen Peter (Vladimir Burlakow), dessen amouröses Interesse an der jungen Frau einerseits zwar spürbar ist, dem es auf der anderen Seite jedoch nicht gelingt, sich von den Schatten seines Milieus zu befreien und vorübergehend als eben jene Sorte „Arschloch“ erscheint, die Sascha mit dem männlichen Geschlecht grundsätzlich in Verbindung bringt. In diesen beiden Jungenfiguren zeigt sich die sehr differenzierte Charakterzeichnung von „Scherbenpark“, die zu den großen Stärken der Verfilmung gehört. In Saschas Kopf mag es radikal zugehen – alle Männer sind Schweine – doch Blümner und Kress bemühen sich um Zwischentöne. Niemand ist hier nur sympathisch oder nur zu verurteilen und auch Sascha ist nicht die Sorte Heldin, mit der man sich ohne Weiteres identifizieren möchte oder könnte.
Dass die Hauptfigur derart verschlossen agiert, sich mit einem Schutzpanzer aus Aggression gegen das Trauma ihrer Kindheit gewappnet hat, erschwert dem Zuschauer aber auch den Zugang zu ihrer Geschichte. Die Dramaturgie von „Scherbenpark“ folgt nicht den klassischen Unterhaltungsregeln, entwirft keine klare Agenda, an der sich die Heldin abarbeiten könnte und die dem Zuschauer dabei helfen würde, die Richtung des Films zu erahnen. Vielmehr präsentiert Katharina Kress mit ihrer Romanadaption das Porträt einer jungen Frau, das sich nur langsam, Szene für Szene, Situation für Situation zu einem großen Bild zusammensetzt. Eine Heldin, die sich nicht nur gegen die Nähe ihrer Mitmenschen, sondern auch gegen die des Publikums sträubt. Das ist mutig – und kommt im klassischen Primetime-Fernsehfilm heute so gut wie nicht mehr vor. Alle haben panische Angst davor, den nach Emotionen und Empathie gierenden Zuschauer zu „verlieren“. Zu recht gab es nicht nur für Jasna Fritzi Bauer, sondern auch für Drehbuchautorin Katharina Kress den Max-Ophüls-Preis 2013.
Trotz kleiner Schwächen ist „Scherbenpark“ in erster Linie für seine differenzierten Charakterisierungen zu loben, für seinen ehrlichen, aber stets respektvollen Blick in ein Milieu, das im deutschen Fernsehen – wenn überhaupt thematisiert – tief pessimistischen Dramen über gesellschaftliche Abgründe vorbehalten ist. Und für seine starke Heldin, die niemals künstlich überhöht wird, keine 180-Grad-Wendung zum Vorzeigeteenager vollführt und gerade deshalb eine echte Vorbildfunktion übernehmen kann. (Text-Stand: 23.10.2014)