Wenn die vorbestrafte Mutter neben der Tochter her ermittelt
Was macht eine Supermarktbetreiberin aus Ahlbeck (Gunda Ebert) nachts halbnackt im Kurpark des benachbarten polnischen Swinemünde? Das fragen sich Julia Thiel (Lisa Maria Potthoff) und ihr polnischer Kollege (Marcin Dorocinski). Hat sich die Frau kurz vor dem Erfrierungstod selbst die Kleider vom Leib gerissen oder ist sie Opfer eines Sexualdelikts geworden? Die deutsch-polnischen Verhältnisse werden nicht belastet: Der Fall dreht sich um einen besonders dreisten Immobilienbetrug. Ein Wohnungstausch zum Vorteil der Toten und zum Nachteil von Kassiererin Rita (Ramona Kunze-Libnow) und ihres Vaters Werner Mahlow (Peter Franke). Dieser steht bald im Fokus der Ermittlungen, weil der zu Überreaktionen neigende Alkoholiker am Abend der Tat in Swinemünde Randale gemacht, die Tote offenbar getroffen hat – aber sich an nichts erinnern kann. Tochter Rita holt sich deshalb Beistand von Julia Thiels Mutter Karin Lossow (Katrin Sass). Die will nach dem Affektmord an ihrem Mann und den acht Jahren Haft Frieden schließen mit ihrer Familie, fühlt sich aber dennoch in der Pflicht als Ex-Staatsanwältin – und ihr Hilfsjob im Tierpark ist auch nicht tagesfüllend.
Die Frauen haben im „Usedom-Krimi“ die Fäden in der Hand
„Schandfleck“, der zweite „Usedom-Krimi“, ist mehr noch als „Mörderhus“ ein von Frauen angetriebener Film. Die Männer sind gutgläubig naiv (Stefan Thiel), pragmatische Karrieristen (Polizeichef & Kurdirektor) oder selbstzerstörerische Querulanten (Werner Mahlow). Die Frauen ermitteln, entscheiden, handeln. Julia Thiel, „eine spröde Inselpersönlichkeit“, so Lisa Maria Potthoff, ist eine kluge Kommissarin und eine Frau, die ihre Geheimnisse hat. Was ihre Affäre mit ihrem polnischen Kollegen angeht, so ist sie es, die sagt, wann Schluss ist. Ähnlich zielstrebig agiert ihre Teenager-Tochter Sophie (wie immer Gesten- und Blick-genau: Emma Bading), die in Sachen Liebschaft der Mutter aktiv wird und die Familie rettet. Ob’s in den Genen liegt oder abgeguckt ist: auch Mutter bzw. Großmutter Karin Lossow ist eine Frau, die sich einmischt, eine Frau von Format und Größe. Symptomatisch für sie, wie sie mit dem Stigma ihrer Vita umgeht: „Irgendwoher kenn’ ich sie“, sagt ein Besucher des Wisentgeheges. „Wahrscheinlich aus der Zeitung – ich habe vor acht Jahren meinen Mann erschossen“, kommt es prompt zurück. Und auch eine der Episodenhauptrollen ist weiblich und wichtig: die Frau an der Kasse (sehr stimmig besetzt: Ramona Kunze-Libnow), zwar ein ganz anderer Frauen-Typus als das selbstbewusste Trio der Krimi-Reihe, aber sie gibt der Handlung wichtige Impulse und ist Herzstück des Milieus, in das „Schandfleck“ eintaucht: Die Sorgen und Nöte der kleinen Leute in einem Umfeld, das immer teurer und mondäner wird.
Die Drehbuchautoren verstehen sich als eine Art Writing-Room
Drei weibliche Hauptfiguren. Beim Drehbuchschreiben sind aller guten Dinge nur selten drei. In der Regel bedeuten drei Autoren: da musste nachgebessert werden. Bei den „Usedom-Krimis“ liegt der Fall anders: Scarlett Kleint, Michael Vershinin und Alfred Roesler-Kleint sind ein eingespieltes Team mit unterschiedlichen Qualitäten. „Es gibt eine sehr reife emotionale Stimme, einen, der fabuliert wie kein zweiter Autor, den ich kenne, und einen sehr klugen Kopf, der das alles ordnet“, umschreibt Produzent Tim Gehrke das Trio, das sich als eine Art Writing-Room versteht. Die drei werden auch die weiteren Episoden der Reihe schreiben (die dritte ist bereits in der Mache) – wohl auch deshalb, weil dies die beste Voraussetzung dafür ist, den horizontalen Erzählbögen der privaten Geschichten früh die richtige Logik zu geben.
Einen familiären und atmosphärischen Mikrokosmos etabliert
Größte Sorgfalt haben die Autoren darauf gelegt, wie die Vorgeschichte der Reihe eingeführt und die Auftaktepisode narrativ weitergeführt wird, ohne dass es für den „Kenner“ redundant und für den, der „Mörderhus“ nicht gesehen hat, zu unverständlich würde. Da genügt manchmal ein Satz an der richtigen Stelle. Wie die bereits angeführte Replik Lossows an der Kasse des Wisentgeheges. Oder der Satz des Kurdirektors, der Julia Thiel nachdenklich stimmt: „Die ganze Insel weiß, dass Ihr Vater die Hand aufgehalten hat.“ Durch diesen einen Satz macht es klick beim Zuschauer: Da war doch diese Tasche mit Geld. Auf die Frage, was dran ist am Korruptionsvorwurf, holt die Mutter diese Tasche wieder aus dem Versteck. Auch hier genügt ein Satz: „Das ist der nichtoffizielle Nachlass deines Vaters.“ Das sind Beispiele dafür, wie horizontales Fernsehen im Rahmen der deutschen Fernsehfiktion (auch) funktionieren kann. Einziger Wermutstropfen sind die langen Wartezeiten zwischen den Episoden. Bei „Schandfleck“, der wie „Mörderhus“ mit einem klassischen Cliffhanger endet, entsteht eine Neugier, die einem kleinen Frusterlebnis gleichkommt dadurch, dass Episode 3 wohl erst in einem Jahr folgen wird (ein Einschaltreiz wird dieser Schluss dann nicht mehr sein). Diese kleine finale „Enttäuschung“ spricht natürlich für die Reihe und dafür, wie gut sie es in nur zwei Episoden geschafft hat, einen stimmigen familiären und atmosphärischen Mikrokosmos zu etablieren. Dieses Usedom ist mit dem Meer und der Nähe zu Polen eben nicht nur Provinz, mit der eine gewisse Enge und – dramaturgisch gesehen – Konzentriertheit verbunden ist, sondern dieser Schauplatz bringt auch „Offenheit“ und „Weite“ mit sich.
Katrin Sass, Lisa Maria Potthoff und der alte Mann und das Fahrrad
„Schandfleck“ hält klug die Waage zwischen Ermittlerkrimi und Familiengeschichte, zwischen Whodunit und Kleine-Leute-Drama. Nicht zuletzt, weil in dem Fall ständig die familiären Beziehungsgeschichten mitschwingen. Diese Erzähldichte erzeugt einen Handlungsfluss, dem man sich schwer entziehen kann. Getragen wird das von den herausragenden Schauspielern, die jede Situation, die ja nur eine von tausenden ähnlich gelagerter TV-Krimisituationen ist, zu etwas Besonderem machen, indem sie den Augen-Blicken Klarheit und Intensität geben. Bei Katrin Sass und Lisa Maria Potthoff hängt das stark mit dem überaus reflektierten Wesen ihrer Figuren zusammen, mit dem der Erzählstil insgesamt korrespondiert. Peter Frankes Szenen dagegen ziehen ihren großen Reiz aus der Unberechenbarkeit dieses Charakters, in dem Tragik (der Geschichte) und Komik (für den Zuschauer) dicht beieinander liegen. Er leibt und lebt diese Rolle des grantelnden Kauzes, dieses alten Mannes auf dem Fahrrad, den Flachmann in Reichweite und mindestens eine grobe Beleidigung auf den Lippen. Weniger Glück als sein Vorgänger Andreas Herzog hatte Regisseur Oliver Schmitz mit dem Wetter, das der Landschaft in „Mörderhus“ eine bizarre eisige Winteroberfläche schenkte; auch ist die Bildsprache von Leah Striker nicht ganz so elaboriert wie die von Philipp Sichler. Bei dieser stärker auf die Charaktere und das alltägliche Leben auf der Insel konzentrierten Geschichte, ist das – vor allem bei diesen Schauspielern! – allerdings nicht unbedingt ein Manko.