Der Koffer auf dem Weg nach Tokio, die Mutter im Koma, das Bargeld futsch, das Konto gesperrt. Für Marie (Katharina Marie Schubert) könnte es nicht schlechter laufen. Eigentlich wollte sie mit ihrem Hunsrücker Frauenchor in Japan ein paar Konzerte geben. Die einzige, lang ersehnte Abwechslung von ihrem trostlosen Alltag. Nach einer Privatinsolvenz lebt Marie nicht nur am Existenzminimum, sondern auch wieder bei ihrer gesundheitlich angeschlagenen Mutter (Victoria Trautttmansdorff), bei der sie in ihrem Kleinstadtladen als Mini-Jobberin angestellt ist. Als diese in ihrer Kur erfährt, dass die sonst so „brave“ Tochter das Geschäft für zwei Wochen geschlossen hat, erregt sie sich so sehr, dass sie das Bewusstsein verliert – und tagelang nicht aufwacht. Japan kann sich Marie also abschminken. Tokio sei ohnehin „eine schlimme Stadt“, versucht sie ein japanischer Geschäftsmann (Ill-Young Kim) aufzuheitern. In Rüdesheim sei es doch viel gemütlicher. Und auch an Japanern mangelt es hier nicht. Dass dieser freundliche Herr Tanaka sie betrügt, kann Marie nicht fassen. Plötzlich sieht sie neben den Massen von Touristen jede Menge zwielichtige Gestalten, einen Russen (Ivan Shvedoff), einen Amerikaner (Robert Seeliger), einen aggressiven Bodyguard (Feras Zarka). Allein die Ukrainerin Krystina (Janina Elkin) vermag es, Maries Weltbild wieder zurechtzurücken.
Nach zwei Monaten durchweg sehenswerter Freitagsfilme ist „Saronya Loreley“ der bisherige Höhepunkt auf dem ARD-Fiction-Termin für leichte Unterhaltung. Eine Frau steht mit Mitte 40 mitten im Leben – und doch glücklos daneben. Ausgebremst von den Umständen: Nach einer gescheiterten Beziehung, die für sie auch den finanziellen Ruin bedeutete, hat es sie zurückverschlagen in ihr Hunsrücker Heimatkaff zu ihrer alles bestimmenden Mutter. Das ist die Backstory. Sie ist von Beginn an spürbar, wird aber erst sehr viel später in einem Gespräch zwischen der „Heldin“ und ihrer neuen Freundin konkret. So wie sich nach und nach der Charakter Christina aus ihrer aktuellen Notlage, ihrem Lebensweg, ihrem Wesen und dem Verhältnis zu ihrer Mutter herausschält, so entwickelt sich seinerseits das, was man Handlung nennt, voll und ganz aus der Perspektive dieser leidgeplagten Hauptfigur. Einfacher ausgedrückt: Der Charakter bestimmt die Geschichte. Die Zuschauer*innen erleben den Film 90 Minuten lang mit den Augen dieser Frau. Verloren im Angesicht der Loreley – so lässt sich die äußere Handlung zusammenfassen. Der psychologische Subtext zielt auf eine Abnabelungs- und Emanzipationsgeschichte. Auf dem Papier erst mal nichts Weltbewegendes.
Dass der Film (sicherlich nicht nur) beim Kritiker bestens funktioniert, auch ohne dass sich in den ersten 30 Minuten ein klassischer dramatischer Plot abzeichnen würde, geht neben dem Klasse-Drehbuch in ganz besonderem Maße auf das Konto von Katharina Marie Schubert. „Idealbesetzung“, das schreibt sich immer schnell. Hier aber trifft der Begriff ins Schwarze: Schubert scheint den Charakter in all seinen Facetten aufgesogen zu haben. Auf ihrem Gesicht lässt sich Maries Geschichte, die erst schrittweise entschlüsselt wird, bereits vorab lesen. Da ist diese Vergeblichkeit im Blick, diese unterdrückte Wut, erkennbar sind aber auch Trotz, der Mut der Verzweiflung, und dann blitzt bereits in Momenten, in denen ihre Marie eigentlich nur noch laut schreien dürfte, etwas Keckes auf, eine intuitive Zuversicht, ein Optimismus, eine Begeisterungsfähigkeit, all‘ das kitzelt später die Ukrainerin Krystina aus ihr heraus. Es sind mehr als nur Gefühlstonlagen. Als Zuschauer bekommt man früh ein Bild von Maries Wesen in ihrer ganzen Vielschichtigkeit. Das ist der Unterschied zu vielen anderen Unterhaltungs-Filmen, in denen den Figuren oft nur ein paar stereotype Eigenschaften zugeschrieben werden. Und so wandelt sich in „Sayonara Loreley“ die graue Maus auch nicht urplötzlich in eine lebenslustige, durchsetzungsfreudige Frau. Ihr Emanzipationsprozess ist ein Weg. Eine Woche Rüdesheim. Wie der Weg verlaufen könnte, deutet Katharina Marie Schubert früh an.
Der Film von Wolfgang Murnberger trägt weder seine Emanzipationsgeschichte vor sich her, noch bemüht er abgegriffene dramaturgische Muster oder Genre-Klischees. Dieser Degeto-HR-Koproduktion gelingt das seltene Kunststück, auf kluge, intelligente Weise unterhaltsam zu sein. Dazu gehört, dass die Macher die Geschichte mit Momenten von gesellschaftlicher Relevanz und aktuellen Bezügen unterfüttern. Immer wieder kommt Wirklichkeit ins Spiel. Stets beiläufig, nie ausgestellt. Gleich in der ersten Einstellung, in der der Ort, in der die Heldin lebt, eingeführt wird, fällt der Blick auf Läden mit den bekannten Schriftzügen „Räumungsverkauf“ oder „Geschäftsaufgabe“. Und der Mut zu eigenwilligen Nebenfiguren sorgt dafür, dass später auch noch Trump oder Putin ihr Fett abbekommen oder ein Russe das Zwangsarbeiter-System der Nazis mit der aktuellen Asylpolitik abgleichen darf. Da genügt manchmal ein Satz. Dass die Frau, die der „Heldin“ Mut macht, aus der Ukraine kommt und ein noch bescheideneres Dasein führt als sie, ist kein Zufall. Genauso wenig, dass ihr Sohn Petja zwar Deutsch spricht, aber außer „peng“ wenig zu sagen hat. Fokussierter, aber ebenso charmant, ist der Umgang mit dem Ausländerthema. Das Phänomen, dass Arbeitskräfte aus aller Welt Touristen aus aller Welt deutsche „Gemütlichkeit“ verkaufen ist eine reale Absurdität. Ebenso das, was hier als typisch deutsch goutiert wird: Bratwurst, Sauerkraut, Kaiserschmarrn(!) – und der bayerische Sepp spricht nach Feierabend wieder Hochdeutsch.
Die Touristen wollen, dass man ihnen etwas vormacht. Dennoch ergeht sich „Sayonara Loreley“, produziert von der Tivoli Film (Producerin: Gudula von Eysmondt), nicht in wohlfeilem Rhein-Nostalgie-Bashing. Rüdesheim bleibt Kulisse für einen Sehnsuchtsort und Symbol für Deutschland, dessen Volkswirtschaft ohne seine ausländischen Mitbürger oder Saisonkräfte verloren wäre. Etwas vorgemacht bekommen wollen auch die deutschen Fernsehzuschauer. Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett. Und so wähnt sich Marie bald in der reinsten Räuberpistole. Sogar eine Knarre hält man ihr an den Kopf. Die Krimihandlung wird allerdings auf der Zielgeraden ad absurdum geführt. Autor-Regisseur Murnberger und das Autorenduo Stephan Falk & Anke Sevenich, das die Drehbuchvorlage verfasste, zeigen den Zuschauern die lange Nase. Hörenswert sind auch viele Dialoge. Armin Rohde als Rhein-Fährmann in einer Gastrolle durfte schon länger nicht mehr so wenige und so unaufgeregt kluge Worte machen. Ein Satz ist besonders schön: „Das richtige Abenteuer ist sowieso im Kopf, und wenn es da nicht ist, dann ist es nirgendwo.“ Den hat so ähnlich der österreichische Poet André Heller getextet. Ebenso prägnant, für den Film noch passender und nicht geklaut ist ein Satz eines weisen Russen: „In der Fremde werden Fremde schneller Freunde.“