Katinka (Judith Bohle) und Tom (Carlo Ljubek) führen eine Praxis für Kinder- und Jugendpsychotherapie in Berlin. Sie haben sich ein kleines Paradies in der Stadt geschaffen. Sie können es gut gebrauchen, zum Runterkommen und zum Reflektieren; dieser Beruf verlangt enorme Sensibilität und hohe Konzentration. Vor allem aber brauchen ihre kleinen und auch die nicht mehr ganz so kleinen Klienten und Klientinnen diesen sicheren Ort, an dem es so anders ist als in deren Alltag. Der Garten weckt Erinnerungen, lässt Sehnsüchte aufkommen oder ist einfach nur gut zum Toben. Hier öffnen sich die einen, in den hellen Therapieräumen mit Blick in diese Oase die anderen. Da ist die sechsjährige Ronja (Lotte Shirin Keiling), der nach der Trennung der Eltern die Kindheit genommen wurde und die rastlos umherirrt zwischen Nuckel-Fläschchen und der typischen Teenagerfrage Wie sehe ich aus und welche Wirkung habe ich auf andere?. Und da ist Sam (Valentin Oppermann), ein 15jähriger Vollwaise voller Wut, der sich entscheiden muss, ob er an seiner Problembiografie weiterschreiben will oder nicht. Besonders vielschichtig sind die Konfliktsituationen bei dem achtjährigen Jonas (Jonte Blankenberg) und der 15jährigen Nelly (Carla Hüttermann). Er muss mit dem nahenden Tod seines Vaters zurechtkommen, sie reagiert auf ein traumatisches Erlebnis, das sie in ihrem Inneren fest verschlossen hat, mit Panikattacken.
Wer glaubt, die acht 45-Minüter von „Safe“ seien nur interessant für Eltern mit Problemkindern, liegt völlig falsch. Ebenso wer glaubt, diese Serie von Oscar-Gewinnerin Caroline Link könne nur etwas sein für Erwachsene, die Kinder haben. Selbst wer keinerlei Bezug zum Thema hat und sich auch an die eigene Kindheit nicht mehr oder nur mit Widerwillen erinnert, bei dem könnte die Beschäftigung mit „Safe“ möglicherweise an Verdrängtem rühren und den Alltagsblick weiten. Gut tut diese Serie vor allem auch all denen, die sich einen achtsameren und respektvolleren Umgang mit anderen Menschen wünschen, abseits von den asozialen Medien, abseits von einem Pragmatismus, der die Last des Alltags zum Alibi für unsoziales Verhalten macht. Und auch denen, die sich ein anderes Fernsehen wünschen, eines, das gesellschaftliche Wirklichkeit auch einmal ohne Mord und Totschlag zu begreifen versteht, können die sechs Stunden eine heilsame TV-Therapie ermöglichen.
Die Art, wie die Psychotherapeuten sich in der Serie ihren Schutzbefohlenen nähern, kann einem die Augen öffnen. Beide haben auch ihre privaten Baustellen: sie eine unerfüllte Beziehung mit einem verheirateten Mann (Christian Erdmann) und eine angespannte mit ihrem Psychologen-Übervater (Matthias Habich), er eine möglicherweise glückliche mit seiner Tochter (Ella Lee), die ihn in Berlin besucht und bald ganz bei ihm leben wird. Doch die eigenen Sorgen sollten die Therapiesitzungen nicht beeinflussen. Dass Tom und vor allem Katinka Selbstzweifel haben – auch das spricht für sie, macht sie sympathisch. Aber anders sympathisch als Charaktere des konventionellen Erzählfernsehens: Es hat den Eindruck, als würde ihnen ihr Wesen nicht vom Drehbuch verordnet, sondern als stünden dem Zuschauer Menschen aus Fleisch und Blut gegenüber, Menschen, mit denen man gern Zeit verbringen würde. Und diese beiden sind ja vielleicht nicht nur beruflich ein ideales Paar. Natürlich spielt Link mit diesem Gedanken – und macht ihn zu einem Bild, zärtlich hin getuscht als Ausblick auf eine zweite Staffel. So denkt sich das der seriengeschulte Zuschauer. Theaterschauspielerin Judith Bohle („Polizeiruf 110 – Smoke on the Water“), die sich im Fernsehen rarmacht, und Carlo Ljubek („Das Leben danach“) würde man jedenfalls in diesen Rollen gern wiedersehen.
Foto: ZDF / Julia von Vietinghoff
Die Schauspieler sind das Herzstück von Caroline Links Ausnahmeserie
Das Spiel von Judith Bohle und Carlo Ljubek ist hypersensibel: Bis in die kleinsten Gesten verkörpern sie ihre Therapeutenrollen absolut glaubwürdig. Und das, was Jonte Blankenberg und Carla Hüttermann als die beiden Unruhe-Geister der Serie leisten, ist einfach unglaublich. Nelly ist eine hyperaktive Sportlerin, die vor einem schrecklichen Ereignis davonläuft, bevor sie von ihm mit voller Wucht eingeholt wird. Und der empfindsame und viel zu vernünftige Jonas muss im zarten Alter von acht den Verlust des Vaters verkraften und die daraus entstandene familiäre Schräglage ausgleichen. In der Schlusssitzung darf er endlich wieder Kind sein. Auf einmal ist er nicht mehr nur traurig und nachdenklich, sondern lebendig: Er ist fröhlich und ausgelassen, phantasievoll, kreativ, einfach nur zufrieden. Und er kann wieder lächeln. Das alles soll die überzeugende Leistung von Valentin Oppermann als Sam nicht schmälern – nur, widerspenstige Teenager gibt es öfter in Filmen zu sehen als Kinder und Jugendliche, die eine so breite Palette an Stimmungen verkörpern und sich dabei tief in die Seele schauen lassen. Und Lotte Shirin Keiling als Ronja muss wohl über das Kinderspiel an die Rolle herangeführt worden sein. Scheinbar völlig unbekümmert verkörpert sie vor der Kamera die bekümmerte Sechsjährige. Sie spielt das Spielen, ohne auch nur einen Moment zu schauspielern. Bei ihr und Jonte Blankenberg hat man überdies den Eindruck, dass sie das sind, was sie spielen. Ein großes Plus für alle Schauspieler: Alle reden so, wie sie auch im Leben reden. Die Situation einer Therapiesitzung sorgt jedoch zugleich für eine konzentrierte Sprache, bei der nichts beliebig ist.
Foto: ZDF / Julia von Vietinghoff
An die Erzählweise, die sich an der Struktur der Therapiesitzungen orientiert, werden sich einige Zuschauer*innen erst gewöhnen müssen. Wer die US-Serie „In Treatment“ kennt oder ihr französisches Pendant „In Therapie“, die beide auf dem israelischen Original „Be Tipul“ basieren, der hat deutliche Vorteile, und wer diese Serien mag, der sollte „Safe“ auf jeden Fall nicht verpassen. Die Serie von Caroline Link ist etwas zugänglicher, weil die beiden Therapeuten deutlich sehr viel weniger ichbezogen agieren, weil sie ihren jungen Menschen zugewandter, möglicherweise auch unverstellter und ehrlicher begegnen und weil es beispielsweise nicht zum psychotherapeutischen Grenzfall der „Übertragung“ kommt. Bei der sogenannten personenzentrierten, non-direktiven Methode sind Projektionen anderer Art gefragt: Die Therapeuten spiegeln ihren Klient*innen deren Situation wider, indem sie deren Gedanken aufnehmen und sie bestärkend wiederholen. Wertungen sind kontraproduktiv. „Nur Euer echtes, authentisches Verstehen kann dazu führen, dass die Kinder anfangen, sich selber zu verstehen, sich selber und ihre ganzen verwirrenden Gefühle“, bringt es eine Supervisorin (Corinna Kirchhoff) in der zweiten Folge auf den Punkt. Und in einem Elterngespräch gibt Katinka die methodischen Erfahrungen an den Vater der sechsjährigen Ronja weiter: „Durch das Spielen versuchen die Kinder zu verstehen, was sie erleben. Sie spielen, was sie beschäftigt und finden in ihrer Phantasie oft selber Auswege oder sogar Lösungen.“
Der Wechsel zwischen Therapiesitzungen und Szenen mit Erwachsenen, die viel oder nichts von der Psychotherapeuten-Materie verstehen, ist eine kluge dramaturgische Entscheidung. In der ersten Folge gerät man völlig unvorbereitet in die „Spielstunde“ mit Ronja, die sich schminkt und dabei im Spiegel begutachtet und die das Makeup-lose Gesicht der Therapeutin mit dem Satz quittiert: „Männer finden das aber nicht so gut.“ Nach der Sitzung rekapituliert Katinka: „sexualisiertes Verhalten gegenüber ihrem Vater“. Für Zuschauer von Filmen und Serien, insbesondere TV-Produktionen, ist der Fall klar. Schließlich lassen einen ja die meisten Filmemacher nur noch 1 + 1 zusammenzählen, und zur Rezeption gehört es ja, sich die im Film erzählte Welt erklären zu wollen. In „Safe“ ist das anders, da gibt die vorfilmische Realität die Sinn-Suche vor. Und Psychotherapien dauern lange. Auch bei Jugendlichen und Kindern oft viele Wochen oder Monate. Die meisten der vier im Film bringen es auf über 20 Sitzungen. Da ist der erste Eindruck selten zielführend. Im Gegensatz zu „In Therapie“ & Co sind die Ellipsen deutlich länger, wird der Zeitraum komprimiert, in dem sich Verhalten oder Ansichten ändern, in der sich Körperpanzer erweichen lassen oder ein Trauma eher zufällig getriggert wird. Das ist sinnvoll bei einer Serie, deren Psychotherapien zwar respektvoll, aber weniger auf Augenhöhe ablaufen und bei denen der „Inhaltsaspekt“, Ursachen und mögliche Heilung, auch für den Zuschauer sehr viel wichtiger sein dürfte als der „Beziehungsaspekt“, die emotionalen Zwischentöne, die kleinen Kämpfe und Provokationen.
Foto: ZDF / Julia von Vietinghoff
Die Zuschauer*innen müssen aber nicht bis zu den beiden letzten Folgen (pro Folge werden zwei Sitzungen erzählt) warten. Theoriegestützte Annäherungen an den „Fall“ (an den jeweiligen Befund wird vor jeder Therapiestunde mit einem Insert erinnert) und erste Erklärungsversuche gibt es immer wieder zwischendurch. Mal gibt der Vater von Katinka etwas zum Besten, was diese alles andere als hilfreich findet, in Folge 2 und Folge 5 gibt es die bereits erwähnten Essentials der Supervisorin zur Methode der nicht-direktiven Spieltheorie und den Versuch der Therapeutin, Ronjas Vater für die Entwicklungspsychologie seiner Tochter zu sensibilisieren. Die Problem-Komplexe der beiden Teenager hingegen erklären sich im Verlaufe der Therapie nahezu von selbst. Die Serie veranschaulicht, was Psychotherapie im Umgang mit seelischen Verletzungen leisten kann: Das Trauma ins Leben integrieren, damit man es aushalten kann. Hilfreich dabei kann Trauer sein. „Das ist wie ein Schorf, der sich auf eine Wunde setzt. Daraus wird irgendwann eine Narbe. Aber man kann ganz gut mit ihr leben.“ Eine schöne Metapher, die dem 16jährigen Sam, der gute Gründe dafür hat, ein schwieriger Jugendlicher zu sein, hilft zu verstehen. (Text-Stand: 19.9.2022)