Marokkanische Fliesen sind seine Leidenschaft, mit Menschen hat er es nicht so besonders. Lothar Kellermann (Jens Harzer) lebt zurückgezogen. Mit den Angestellten seines Fliesen-Geschäfts, Sekretärin Elisabeth (Milena Dreißig) und Manfred (Vedat Erincin), dem Mann für das fachgerechte Verlegen, wechselt er oft tagelang kein Wort. Gespräche führt er am liebsten mit seinem Hund Bosco. Und so erfährt der es auch als erster: „Na, mein Schatz, ich habe immer so Angst gehabt, dass Du mich eines Tages allein zurücklässt. Bist ja nicht mehr der Jüngste. Aber ich glaube, es ist besser so rum.“ Natürlich musste er es mal wieder sein, der mit 49 eine besonders aggressive Form von Lymphdrüsenkrebs bekommt! Sein Groll sitzt tief, nach außen aber zeigt er kaum Gefühle. Lothar tut, was zu tun ist, verkauft seine Firma, sein Haus, gibt seinen geliebten Bosco ins Tierheim, welchem er sein gesamtes Vermögen vermacht – und sucht sich ein Hospiz. Ist ja nicht für lang. Dort trifft er auf Rosa (Corinna Harfouch), für die es sich zu leben lohnt. Das erkennt er aber erst so richtig, nachdem er das Hospiz verlassen musste. Denn Lothar wird nicht sterben. Der Krebs war eine Fehldiagnose!
Foto: WDR / Gordon Timpen
Der Fernsehfilm „Ruhe! Hier stirbt Lothar“ erzählt von zwei Katastrophen. Die erste ist die Krebsdiagnose, die sich allerdings als falsch erweist. „Das ist toll“, jubelt Mitarbeiter Manfred, der Lothars Trauerrede halten sollte. Der Betroffene sieht das völlig anders. „Ich bin schockiert … eine Katastrophe“, echauffiert er sich, als ihm eine Ärztin den neuen Befund mitteilt. Offenbar hatte er sich seelisch und praktisch schon vollkommen auf den Tod vorbereitet. Und dann sind da natürlich noch die anderen Unannehmlichkeiten: Firma weg, Haus weg, Geld weg, Hund weg. Doch noch unangenehmer für diesen griesgrämigen Solisten: Er muss sich emotional bewegen, weil er von nun an auf andere Menschen angewiesen ist – auf seine vergessene Tochter Mira (Elisa Plüss), für die er sein Herz entdeckt, auf die sterbende Rosa, an die er sein Herz verloren hat und die ihm dabei hilft, sein geschenktes Leben zu leben, und auch auf Manfred, der jahrelang unter den Kränkungen seines Chefs gelitten hat und ihm nun dennoch ein Freund ist. Und schließlich erkennt er in dem Partner seiner Tochter (Merlin Sandmeyer), nachdem er ihn nach Lothars alter Sitte genussvoll gedemütigt hat, ein Stück von sich selbst. Dass er ihn ablehnt („der ist nicht der Richtige“) und auch, dass Mira ihn als Partner gewählt hat, ist kein Zufall. Besonders schön, dass einem der Film dies nicht als psychologische Wahrheit aufzwingt. Man muss es erkennen (wollen).
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Jens Harzer über Lothars Reaktion auf seine zweite Chance: „Das, was man gemeinhin erwarten könnte, dass ein Mensch nun jubelnd aufspringt und sich freut, in den vorherigen Status seines Lebens ohne die Krankheit zurückzukehren, diese Reaktion bleibt bei Lothar erst einmal aus … Aber den Umstand, ein zweites Leben zu bekommen und dadurch Glück zu erfahren, den unterläuft die Figur – und auch der Film. Diese klassische Erwartung wird nicht erfüllt.“
Zwei für den Film typische Dialogwechsel
So stellen sich die beiden vor. Rosa: „Brustkrebs mit Knochenmutanten im Endstadium.“ Lothar: „Lymphdrüsenkrebs mit Hautmanifestationen, auch im Endstadium.“ Rosa: „Wollen wir Du sagen, Lothar? Ist ja nicht für lange.“
Nachdem sich Vater und Tochter nach Jahren im Hospiz wiedersehen. Mira: „Soll ich denn wiederkommen?“ Lothar: „Willst du denn?“ Mira: „Willst du?“ Lothar: „Jo, wär ja nicht mehr oft.“
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Auf die Idee mit der doppelten „Katastrophe“ muss man erst einmal kommen. Die Vorlage zur Fehldiagnose gab die Wirklichkeit. Produzentin Kirsten Hager las in einem Wochenmagazin von einem vermeintlich Todkranken, der ohne Hab und Gut in einem Hospiz auf den Tod warten wollte. Für die wunderbare Paradoxie nach dem ersten Akt ist dann allerdings Drehbuchautorin Ruth Toma („Der Junge muss an die frische Luft“ / „Der verlorene Bruder“) verantwortlich. Sie, Regisseurin Hermine Huntgeburth („Männertreu“ / „Neue Vahr Süd“), vierfach Grimme-Preis-gekrönt, und der grandiose Jens Harzer in der Hauptrolle haben auch dafür gesorgt, dass diese Tragikomödie nicht den überstrapazierten Dramödien-Topos von der „zweiten Chance“ bedient. Lothar lernt dazu, bekommt eine Vorstellung, was Lebenslust bedeuten könnte, ohne gleich in ihr aufzugehen. Der neue Lothar wird den alten Lothar, der er 49 Jahre lang war, nicht abstreifen können. Er wird ein Sonderling bleiben, aber er wird offener durchs Leben gehen und sicherlich auch achtsamer mit den Menschen umgehen. Gerade weil die Macher dem Zuschauer keine märchenhafte „Ist das Leben nicht schön?“- Zuckerguss-Utopie präsentieren, ist es ein wahrhaftiger, lebensbejahender Film. Es gibt erfreulicherweise kein konventionelles Happy End. Das Leben von Lothar, Mira & Co geht weiter. Wer weiß schon was kommt – was im Übrigen auch für alle Phasen dieser Geschichte gilt. Gewiss ist allein der Tod. Und selbst das stimmt – wie der Film zeigt – nicht immer.
Foto: WDR / Gordon Timpen
Eine gute Geschichte ist nicht zu trennen von der Art und Weise, wie sie dramaturgisch und ästhetisch erzählt wird. Meister ihres Fachs wie Toma oder Huntgeburth wissen das natürlich. In „Ruhe! Hier stirbt Lothar!“ wird die Narration vom Charakter bestimmt, entsprechend lakonisch sollte die Tonlage sein. Die Gleichgültigkeit der Welt, die sich anfangs über das Leben des „Helden“ legt wie ein Leichentuch, findet ihren Ausdruck in einer distanzierten, obgleich nicht emotionslosen Haltung zum Geschehen. Es ist, wie es ist, scheinen die Szenen, die zu Beginn oft nur aus einer kurzen Einstellung bestehen, dem Betrachter zu sagen. Hier ergibt sich einer in sein Schicksal. Erst nach der Ankunft im Hospiz bricht der ganze Schmerz aus Lothar heraus – für wenige Sekunden. Das Mitgefühl mit diesem spröden Charakter, diesem mitunter so unangenehmen Zeitgenossen stellt sich schleichend ein. Seine Unerfahrenheit in Bezug auf den Ernst des Lebens, seine ehrliche Verunsicherung, die die todgeweihte Rosa neugierig macht, wecken auch bald das Interesse des Zuschauers. Aber dieser Lothar fordert ihn weiterhin heraus, denn mit ihm ist diese typische Fernsehfilm-Läuterung nicht zu machen. Das Ganze funktioniert so gut, weil Kamera, Szenenbild und Schnitt die Hauptfigur machen lassen, ihr verschlossenes Wesen in eine für TV-Verhältnisse ungewöhnliche Filmsprache übersetzen. Wenn es um den Menschen geht, geben Huntgeburth & Co dem feinsinnigen Spiel der Bühnenstars Jens Harzer und Corinna Harfouch Zeit und Raum. Denselben Respekt erweisen die Macher auch dem Tragikomödien-geneigten Zuschauer, der 90 Minuten aus dem Staunen nicht herauskommt. (Text-Stand: 4.1.2021)