Hinterher ist man immer schlauer – oder auch nicht. Für Floriane Bohringer (Katja Riemann) gilt dies nach dem Suizid ihrer 15-jährigen Tochter Luna (Hannah Schiller) in besonderem Maße. Sie zermartert sich ihren Kopf. Was hat sie nur falsch gemacht? Wo hat sie als Mutter versagt? Gab es Anzeichen für eine Depression, die sie übersehen hat? Hat sie tatsächlich „die psychische Gesundheit der eigenen Tochter aus den Augen verloren?“, wie ein konservativer Politiker der engagierten Journalistin und Feministin öffentlich vorhält? Oder war es die Scheidung, jene Trennung, die man Luna und ihrem Bruder Carlo (Paul Ahrens) nicht ganz ehrlich als „Beziehungspause“ verkauft und die die introvertierte Luna möglicherweise schlechter verkraftet hat, als sie es sich hat anmerken lassen. Dabei war es doch eine so vernünftige Trennung. Vater Jens (Thomas Loibl) ist mit seiner neuen Lebenspartnerin Kathi (Annika Kuhl) quasi zurückgezogen, in eine Wohnung im selben Haus, wo die Kinder von beiden Eltern stets offen empfangen wurden. Luna war mehr das Mutterkind, während Carlo beim Vater wohnte, um der pubertierenden Drama-Queen zu entgehen. Und jetzt gibt es Luna nicht mehr. Alle sind geschockt, ratlos, sie trauern, machen sich selbst oder gegenseitig Vorwürfe. Nur Floriane handelt. Und plötzlich steht ihre Tochter wieder neben ihr…
In der sechsteiligen Drama-Serie „Reset – Wie weit willst du gehen?“ stößt die Heldin auf eine Agentur, die das Reisen in die Vergangenheit ermöglicht. „Tod verhindern wird als Grund akzeptiert“, sagt die Computerstimme am Smartphone. Wenig später stehen zwei Boten jenes „Plan B“-Dienstleisters auf der Matte: Sack über den Kopf, rein in einen Transporter – und dann befindet sich Floriane, genannt Flo, wieder an jenem Tag im August, der (mit)entscheidend für Lunas verhängnisvolles Schicksal war. Die toxische Beziehung zwischen ihr und ihrem gewalttätigen Freund Pascal (Alessandro Schuster) hofft die Mutter, durch entscheidende Weichenstellungen positiv beeinflussen zu können. Doch „Tod verhindern“ ist schwieriger als gedacht. Erstmal verliert Luna das Vertrauen in ihre Mutter völlig, nachdem diese Pascal angezeigt und sich Zugang zu den intimsten Handy-Daten ihrer Tochter verschafft hat. Gleichzeitig ist Flo zunehmend beunruhigt: Luna wird von ihren früheren Freundinnen gemobbt, und ausgerechnet Pascal ist für sie die einzige Verbindung zur Außenwelt. Luna lebt nur noch in ihren Ängsten und der Panik, ihren Freund nicht mehr sehen zu können. Für die blutige Lippe und die Hämatome gibt sie allein sich die Schuld. „Ich bin nichts ohne ihn“, jammert sie. Die Zeitreisende erkennt, dass sie die Dienste von „Plan B“ noch ein weiteres Mal bemühen muss. Dieser vermaledeite Turnwettbewerb, bei dem sie Vorletzte wurde, muss weg. Floriane versucht, ihre Tochter fürs Tanzen zu begeistern: Lust statt Leistungsdruck, das könnte funktionieren. Doch Lunas Depressionen sitzen tief; schon als Kind steckte sie voller Angst und Aggression. Wie gut, dass es „Plan B“ gibt.
Und wie gut, dass es diese Serie gibt, die das Augenmerk auf psychische Erkrankungen und auf komplexe Familienkonstellationen lenkt – und dabei einen zwischenmenschlich motivierten Sog entwickelt, der alles übertrifft, was Crime-Sujets und Krimi-Dramen an Handwerk und Spannung zu bieten haben. Das hat auch dramaturgische Ursachen. Denn die Autorinnen Ingrid Kaltenegger („Das Glück ist ein Vogerl“) und Mika Kallwass („Harter Brocken – Der Goldrausch“) setzen nicht auf die Methoden des Themenfilms, der die gute Botschaft dialogreich vor sich herträgt, erzählen auch kein bleiernes Familiendrama, sondern entwickeln nach der Vorlage der kanadischen Drehbuchschreiber Jean-Francois Asselin und Jacques Drolet ein raffiniertes Genrekonstrukt, mit wahrhaftigen Charakteren, die voller Leben sind und vor Lust und Selbsthass nur so strotzen. Es wird gelegentlich laut, immer dann, wenn die Panik des postpubertären Teenagers oder die Furcht der sich sorgenden Mutter die Oberhand gewinnen. Es dominieren aber – zunächst – die eher stillen Augenblicke des Schmerzes und – später – die der Hoffnung in dieser auch filmisch hervorragenden Serie: jede Einstellung ein Genuss, fast jede Szene, viele Montagen besitzen einen besonderen Reiz.
„Reset“ erzählt aus der Perspektive, aber auch ganz aus der Psyche einer Mutter heraus – und die Serie erzählt genau das, was sich betroffene Eltern in einer solchen Situation wünschen würden: die Tragödie rückgängig zu machen. Sich nicht von den Gefühlen auffressen lassen, sondern handeln. Ein realistisches Drama würde möglicherweise die Phasen der Trauer durchlaufen. „Reset“ zeigt den großen Schmerz und den Versuch einer Heilung mit fantastischen Mitteln. Die Serie setzt auf ein Sci-Fi-Motiv und erzählt so ein Familiendrama, das über die Rückschau und die Rückbesinnung hinaus (wie es die US-Serie „This is us“ vorbildlich gemacht hat) noch an Dichte und Vielschichtigkeit gewinnt. Das Zentrum der Erzählung ist Floriane Bohringer, eine öffentliche Frau und coole Mutter, um die andere Gleichaltrige Luna beneiden. Sie wusste vor dem Suizid alles besser, danach erst recht. Sie war die Aktive, und dank „Plan B“ bleibt sie es. Die Macherin, die alle in den Schatten stellt und jeden in ihrer Familie in die Passivität drängt, spielt ihre Rolle einfach weiter.
Möglicherweise wäre ja die Umkehr dieses Musters die Rettung. Die Autorinnen jedenfalls wählen eine lebenskluge Lösung, die in der letzten Folge noch so manch eine Träne kullern lässt (auch beim Zuschauer). Es gibt im Fernsehen selten Momente, in denen sich Trauer wahrhaftig empfinden lässt, ganz aus der Situation heraus, pur, ohne filmische Hilfsmittel. Trotzdem können solche „nackten Gefühle“ peinlich wirken. In „Reset“ ist das nicht der Fall. Zu ehrlich ist das Mitgefühl mit den Hauptfiguren, zu überragend „realistisch“ ist das Spiel von Hannah Schiller oder Thomas Loibl. Und was Katja Riemann und ihre feministische Journalistin angeht: Da haben sich zwei gefunden. Diese Frau, die alles richtig machen will, die liebt, die kämpft, die Power hat, die mitfühlt, ihren Schmerz nicht verdrängt, die hilft, die sich auch schon mal übergriffig verhält und in ihrer Spontaneität ungerecht sein kann, sich danach aber auch von Herzen zu entschuldigen vermag und die bei allem Wissen um den Zustand der Welt, bei allen Rückschlägen, die sie bei ihrem sozialen Engagement für obdachlose Berlinerinnen oder bei der Rettung ihrer Tochter erfährt, sich ihren Humor bewahrt hat, diese integre Frau, durch und durch Mensch, ist für Riemann die perfekte Rolle.
Soundtrack: Brandi Carlile („My Mother“), No Doubt („Just a Girl“), M83 & Felsmann + Tiley („Solitude“), Son Lux („Plans We Made“), Whitney Houston („I Wanna Dance With Somebody“), Agnes Obel („Fuel To Fire“), Labrinth („McKay & Cassie“), Lisa Hannigan („Pistachio“), Ashley Johnson & Christ Rondinella („Take On Me“), The Staves („Nothing’s Gonna Happen „)
„Aber du weißt eben nicht alles“, rutscht es ihrer Flo schon mal raus. So kommt auch etwas Ironie ins schwere Sujet. Die freche Schnauze der Heldin, ihre launigen Momente vor der Fernsehkamera, bei denen wunderbar beiläufig Themen wie Emanzipation oder Diversität augenzwinkernd angespielt werden. Ein paar „Zurück-in-die-Zukunft“-Gags gibt es auch, die daraus resultieren, dass 2014 eben doch noch vieles anders war als 2023 (der Grat der Digitalisierung oder der Arroganz der Männer) und dass die Heldin ihr zeitreisebedingtes Mehrwissen, an dem sich auch der Zuschauer erfreuen kann, einem Politiker vorhält. Dass dieser Senator ein Lügner ist, dieses Wissen hat sie exklusiv, deshalb wird dieser Spaß ihr den Job kosten. Solange der Sex mit ihrem jungen Regisseur Milan (Dejan Bucin) gut ist, juckt sie das wenig; möglicherweise auch deshalb, weil sie weiß, dass es ja „Plan B“ gibt. So lassen sich unschöne Lebenssituationen überschreiben. Doch auch dieses Selbstoptimierungs-Programm für mehr Glück hat Grenzen, die Flo und ihre Liebsten schmerzhaft zu spüren bekommen werden. Die Tragödie rückgängig machen. Die Tochter retten. Aber um welchen Preis? Die Heldin wird ihren Lebensweg während ihrer Zeitreise(n) infrage stellen, wird andere Abzweige nehmen, nicht die große Karriere machen. Das Mutter-und-Hausfrau-Modell kann auch nicht die Lösung sein. Das Fazit klingt eher so: „Wir haben nur dieses eine Leben. Wir können nicht zurück. Wir müssen die Dinge akzeptieren wie sie sind.“