„Alles ist für alle da“, „Tue Gutes, und dir wird Gutes widerfahren“, dazu idyllische Bilder eines jungen Paars, das wie Adam und Eva im Einklang mit der Natur zu leben scheint: Der Auftakt zu „Raus“ geht ans Herz. Aber dann folgt ein abrupter Kontrast: Umwelt-Verschmutzung, Küken im Schredder, ein feuernder Panzer. „Die Welt ist am Arsch, weil die Falschen am Drücker sind“, stellt Glocke (Matti Schmidt-Schaller) fest, und dagegen will er was unternehmen. Eine Bildfolge zeigt, was er bislang jedoch alles nicht unternommen hat: Er hat sich nicht als Pornodarsteller verdingt, um mit seiner Gage den Regenwald zu retten, er hat keine geflüchtete Frau geheiratet, sodass sie in Deutschland bleiben kann, und er ist auch kein militanter Ökoaktivist. All’ das hat er aber offenbar Lena (Tijan Marei) erzählt, damit er bei ihr auf der Couch schlafen kann. Weil er die Nächte noch lieber in ihrem Bett verbringen würde, hat er sich auf eine waghalsige Aktion eingelassen, die prompt schiefgeht.
Mit dieser Handlung ließe sich locker ein kompletter Spielfilm füllen, aber sie bildet bloß den furiosen Prolog des Regiedebüts von Philipp Hirsch, der das Buch gemeinsam mit Thomas Böltken geschrieben hat. Nach einer mit entfesselter Kamera (Ralf Noack) inszenierten Verfolgungsjagd mündet der Auftakt schließlich in eine flammende antikapitalistische Rede Glockes, nachdem er zwei Sicherheitsleuten und ihrem Wachhund ein Schnippchen geschlagen hat. Dass das entsprechende Video im Netz durch die Decke geht, dürfte allerdings eher mit dem unrühmlichen Abgang zu tun haben, denn Glocke steht bei seiner Rede auf einem Dixi-Klo, und als das Dach unter ihm nachgibt, steckt er buchstäblich in der Scheiße.
Foto: SWR / ostlicht / Anke Neugebauer
Fünf Jugendliche, drei Jungs und zwei Mädchen, wollen die Zivilisation hinter sich lassen. Mit einer großen Portion Naivität, aber nur mangelhafter Ausrüstung folgen sie den Hinweisen eines mysteriösen Anführers, die sie auf einer Art Schnitzeljagd in die Berge lotsen. Die visuell ambitionierte Mischung aus Jugendkomödie, Horrorthriller und Sozialstudie versagt sich eine vielschichtigere Figurenzeichnung und die emotionale Entwicklung innerhalb der Gruppe und befeuert den Trip stattdessen durch exzessive dramaturgische Wendungen, die überdies Anleihen bei filmischen Vorbildern nehmen. Eine verspielte, aber ästhetisch sehr uneinheitliche Annährung an die Generation Y. (Filmdienst)
„Raus“ erscheint zunächst wie die coole Version zur Infotainment-Dokureihe „Der mit dem Wald spricht“. Hier wandert der Baumflüsterer und Bestsellerautor Peter Wohlleben (…) durchs Unterholz und erklärt dabei das Seelenleben der Pflanzen. Einen Ökoprediger wie Peter Wohlleben gibt es in „Raus“ nicht. Vielmehr stellt sich immer dringlicher die Frage: Wer ist eigentlich dieser ominöse Friedrich, der sie irgendwo in einer abgelegenen Hütte in den Pyrenäen erwartet? Bei der Lösung dieses Problems stoßen die fünf Aussteiger in der Spur Friedrich Nietzsches auf „Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“. Denn die Lüge – und das ist der interessante Dreh dieses Films – erweist sich nicht als Betrug, sondern als gemeinschaftsstiftendes Strukturmoment. Es bedarf einer Autorität – doch ihr logischer Platz wird von niemandem usurpiert. Dank dieser originellen Wendung (…) wird „Raus“ zum sehenswerten Film, dessen ambitionierter Gesellschafts-Entwurf sich von trendiger Naturverkitschung unterscheidet. (epd film)
Natürlich stellt sich angesichts der Bilderkaskaden die Frage, wie Hirsch diesen enormen Handlungsreichtum hundert Minuten lang durchziehen will, aber das hatte er gar nicht vor, denn nach gut zehn Minuten wechselt der Film radikal sein Vorzeichen. Jetzt erst beginnt die eigentliche Geschichte: Glocke will einen Neustart. Er stößt auf die Seite eines Mannes namens Friedrich, der Follower sucht, nicht virtuell, sondern „in echt“: Menschen, die sich vorstellen können, mit ihm in der Natur zu leben; als Erkennungsmerkmal sollen sie rote Mützen tragen. Am genannten Treffpunkt finden sich dann zwar nur fünf junge Interessenten ein, aber immerhin. Dieses Quintett macht sich nun in einer Art Schnitzeljagd durch die Wildnis auf die Suche nach Friedrichs Hütte. Nach anfänglicher gegenseitiger Skepsis wandelt sich die Gruppe zu einem verschworenen Haufen. Damit ist es vorbei, als Glocke durch Zufall herausfindet, dass sie gehörig an der Nase herumgeführt worden sind.
Foto: SWR / ostlicht / Anke Neugebauer
Natürlich kommt es fast zwangsläufig zum Spannungsabfall, als die fünf durch den Wald wandern; daran können auch Ereignisse wie die Auseinandersetzung mit dem feindseligen Wirt (Jacques Breuer) eines Ausflugslokals nichts ändern. Wie in den meisten Filmen dieser Art tragen die Mitglieder der Gruppe zudem ein Etikett: Steffi (Matilda Merkel) hat offenbar eine rechtsradikale Vergangenheit, Elias (Tom Gronau) ist ein Streber und perfekt auf die Wanderung vorbereitet, Paule (Enno Trebs) gibt den harten Kerl und hat eine Flasche Wodka dabei. Und dann ist da noch die hübsche Judith (Milena Tscharntke), in die sich Glocke auf der Stelle verliebt. Sie lässt ihn ein bisschen zappeln, aber im Grunde mag sie ihn auch, was das Abenteuer in der Natur um eine Romanze ergänzt. Jetzt schließt sich der Kreis zum Auftakt, denn die Bilder von Adam und Eva zeigen Glocke und Judith. Ausgerechnet das junge Glück führt schließlich dazu, dass die Illusion zerplatzt wie Seifenblase; die Rache der Gruppe ist von schockierender Grausamkeit. Außerdem steht sie vor der Frage, ob man einen Neuanfang auf einer Lüge aufbauen kann.
Das junge Ensemble macht seine Sache ausnahmslos sehr gut, auch wenn Milena Tscharntke, schon als wichtiges Ensemblemitglied der funk-Serie „Druck“ (2018/19) und als Titeldarstellerin des Vergewaltigungsdramas „Alles Isy“ (2018) ganz vorzüglich, sowie der trotz seiner jungen Jahre bereits enorm filmerfahrene Matti Schmidt-Schaller herausragen. Während der erste Akt vor allem wegen seines Bilderrauschs beeindruckt, sorgt Kameramann Ralf Noack im Rest des Films für einige ausgesprochen schöne Naturaufnahmen, die die Unbeschwertheit der Clique beim morgendliche Baden im See oder bei einer ausgelassenen Schlammschlacht betonen. Aus der Not des begrenzten Budgets macht Hirsch zu Beginn eine witzige Tugend: Glockes nie erlebte Aktivitäten als Weltverbesserer illustriert er mit Archivbildern, in die er Schmidt-Schallers Gesicht montiert hat. Originelle Einfälle dieser Art gibt es gerade im ersten Drittel reihenweise. So hat Lena zum Beispiel ausgerechnet, wie viel Sperma nötig war, um die Protzkarosse eines Zuhälters zu finanzieren; auf so eine Idee muss man erst mal kommen. (Text-Stand: 3.6.2021)