Über 300.000 Menschen sind am 28. August 1988 in die US Air Base ins rheinlandpfälzische Ramstein gekommen. Die Flugschau mit Vorführungen internationaler Militärstaffeln, veranstaltet von der US Air Force, sollte ein Riesen-Volksfest werden. Einer der Höhepunkte: „das durchstoßene Herz“, eine spektakuläre Flugfigur der italienischen „Frecce Tricolori“, bei der zehn Düsenmaschinen fliegen; neun von ihnen schreiben mit ihren Kondensstreifen ein Herz in den Himmel, welches die zehnte mit einem Pfeil durchqueren sollte. Dazu kam es nicht. Der Solopilot kollidierte mit zwei anderen Flugzeugen. Die Zuschauer wurden mit einer Wolke aus 800 Litern Kerosin überzogen, Flugzeugteile flogen durch die Luft und der Stacheldraht zwischen Zuschauern und Rollfeld wurde zu einem glühend heißen Geschoss. Es brach Chaos aus. Die Menschen irrten über das „Schlachtfeld“. Es gab zu wenige Sanitäter, zu wenige Ärzte und keinen Notfallplan. Auch die Kommunikation zwischen den amerikanischen und den deutschen Helfern funktionierte nicht. Der Funkverkehr war überlastet, alle Krankenhäuser in der Gegend überfüllt. Am Ende kamen bei dem Flugschau-Unglück 70 Menschen ums Leben, mehr als tausend wurden verletzt, fast die Hälfte davon schwer.
Foto: SWR / Marc Bossaert
In dem 90-Minüter „Ramstein – Das durchstoßene Herz“ geht es weniger um die grauenvollen Ereignisse am Unglückstag selbst als vielmehr um die Aufarbeitung der Umstände, die zur Katastrophe geführt haben, und um die Folgen für die Opfer. „Ich hoffe auf eine kritische Analyse dieses Vorfalls, damit man daraus lernen kann; sowas darf sich nicht wiederholen.“ Dieser Satz des Arztes (Jan Krauter), der im Film stellvertretend für all‘ die Mediziner steht, die tagelang um das Leben der Schwerverletzten gekämpft haben, könnte auch Leitsatz des Films sein. Drehbuchautor Holger Karsten Schmidt (Grimme-Preise für „Mörder auf Amrum“, „Mord in Eberswalde“, „Das weiße Kaninchen“) ging schon länger schwanger mit diesem Stoff. Dass ein Mann seiner Klasse einen Katastrophenfilm schreiben würde, war nicht zu befürchten. Ihn interessiert Ramstein als tragisches Ereignis, das schwere Versäumnisse als Ursache erkennen lassen und das zu einem Paradigmenwechsel in mehreren Bereichen des öffentlichen Lebens geführt hat. Flugschauen dieser Art wurden in der Folge noch kritischer diskutiert und nicht länger ohne Kenntnis der konkreten Shows genehmigt; in Deutschland waren sie einige Jahre verboten, bevor sie unter strengeren Sicherheitsvorkehrungen wieder erlaubt wurden. Solche Großveranstaltungen mussten außerdem fortan mit einem Einsatzleiter für den möglichen Krisenfall operieren. Wegweisend war vor allem auch die psychologische Notfallnachsorge der Opfer, der Hinterbliebenen und der Rettungskräfte. Das Phänomen des Posttraumatischen Belastungssyndroms fand erstmals hierzulande Anerkennung.
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Schmidt setzt auf mehrere Zeitebenen, die er ungekünstelt miteinander verschränkt. Der Film beginnt mit einem Prolog, der andeutet, wie sich das Unglück in die Körper der überlebenden Opfer eingeschrieben hat. Die Situation, ein für den normalen Menschen kaum merkliches Flugzeuggeräusch und ein Windhauch, korrespondiert mit dem Ende, wo es heißt, dass viele Ramstein vergessen hätten, nicht aber die in irgendeiner Weise Beteiligten; diese empfänden alles noch so „als sei es gestern gewesen“. Nach einem Sprung ins Jahr 1996, eine kurze Sequenz, die erst auf der Zielgeraden, dafür aber umso klüger aufgelöst wird, werden einige Charaktere eingeführt, die sich nach Ramstein aufmachen. Es sind Momentaufnahmen. Wir sehen Menschen, die die Flugschau sehen wollen wie viele andere auch. Im Falle der Familie Müller ist es Max, der sich den Besuch zum Geburtstag gewünscht hat. Die Szenen wirken wie aus dem Familienleben gegriffen, alltäglich, die Nähe zu den Charakteren wird nicht forciert. Das hat den positiven Nebeneffekt, dass Schmidt den Zuschauer nicht wie bei den TV-Katastrophenfilmen der 00er Jahre in das Ratespiel verstrickt, wer wohl überleben werde und wer nicht. In „Ramstein“ liegt von Anfang an – aufgrund der Kenntnis der Umstände – eine respektvolle Ernsthaftigkeit über den Bildern. Schmidt und Regisseur Kai Wessel setzen auf Ruhe und Konzentration. Bevor das Publikum Augenzeuge des Unglücks wird, gibt es einen ersten Fakten-Check: Eine Pressekonferenz mit Dias von der Kollision – wenige Tage nach dem Unglück – liefert erste Informationen. So wurde der korrekte Sicherheitsabstand zwischen Rollfeld und Zuschauern nicht eingehalten. Und die ersten Lügen („Alle Opfer werden betreut“) machen die Runde. Danach erst folgen die bewegten Bilder von jenem verhängnisvollen August-Sonntag, teilweise in Zeitlupe verfremdet. Das dramaturgische Prinzip wird deutlich: Verstehen statt sich überwältigen lassen, Brecht statt Spektakel.
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Zwei, die für diesen Ansatz stehen, sind Hagen Dudek (Trystan Pütter) und seine junge Kollegin Jeanine Koops (Elisa Schlott), die das Unglück im Auftrag des Bundesministeriums untersuchen sollen. Sie stoßen auf einen wenig kooperativen weiblichen US-Captain (Megan Gay), auf kurz angebundene Politiker, aber eben auch auf jenen engagierten Arzt, der die eigene Belastung herunterspielt und unter Tränen von dem Zwang zur Triage im Minutentakt berichtet. Er nimmt kein Blatt vor den Mund: „Das Chaos von der Air Base wurde einfach in die Kliniken verlagert.“ Hauptgrund dafür: Die amerikanische Kriegsregel „Bergen und in Sicherheit bringen“ sorgte bei dieser zivilen Katastrophe für mehr Tote als nötig. So wurden Schwerverletzte ohne Erstversorgung durch die Gegend gefahren, bevor sie in überfüllten Krankenhäusern eintrafen. Nicht nur die Figur findet verständliche, klare Worte; auch Jan Krauter versteht es, diese Aussagen mit Emotion und Humanität zu füllen. Überhaupt wird Sprache als Mitteilungsmedium (im Gegensatz zum ästhetischen Medium) vorzüglich eingesetzt. Das gilt auch für die beiden „Ermittler“. Das Duo erscheint selbst in seiner Gegensätzlichkeit – er sammelt Fakten, sie möchte den Opfern Gehör verschaffen – nicht wie ein Konstrukt für unterschiedlichste Botschaften, Herangehensweisen, Temperamente. Die Charaktere übernehmen gesellschaftliche Rollen, wirken aber nicht wie dramaturgische Funktionsträger. Das liegt an den Dialogen, dem überzeugenden Schauspieler-Duo und an einer intelligenten Szene, in der der sachliche Dudek – außerhalb der Dienstzeit – seiner Kollegin verrät, was er denkt über die, die zu entscheiden haben. Er glaubt nicht, dass jemand zur Verantwortung gezogen wird. Sein Fazit: „Ramstein ist aus Fahrlässigkeit passiert.
Foto: SWR / Marc Bossaert
In der zweiten Hälfte des Films wenden sich Schmidt und Wessel mehr und mehr der psychologischen Hilfe zur Krisenbewältigung zu. Von den Fakten geht es zur Gefühlsebene, von den äußeren Wunden zu den inneren Verletzungen. Dabei fällt auf, wie distanziert und gehemmt die Opfer mitunter über ihre Erfahrungen in der therapeutischen Nachsorgegruppe sprechen. Zu Wort kommen ein traumatisierter Krankenpfleger (Ron Helbig) und eine junge Frau (Alina Stiegler), die ihren Vater und einen ihrer beiden Brüder durch Ramstein verloren hat und die ihrem zweiten Bruder aus Sorge um dessen Leben eineinhalb Jahre diese traurige Wahrheit verschweigen musste. Das Reden vor anderen Betroffenen entlastet. Auch diese Szenen, die ins Innere der Opfer-Figuren blicken und die geschickt mit nicht immer leicht zu verkraftenden Rückblenden veranschaulicht werden, sind sprachlich präzise und äußerst glaubwürdig gespielt. Keiner dieser Dialoge wird mit Musik unterlegt. Die erlebten Leidenserfahrungen werden pur und direkt präsentiert. „Heute erlebe ich alles eher gedämpft, also Gefühle meine ich, Freude, Trauer – wie in Watte.“ Mit dieser Erfahrung ist Robert Müller (Max Hubacher), der Frau und Tochter verlor, nicht allein. Nach der Wut, die beim Zuschauer in der ersten Filmstunde wegen der politischen Ausweichmanöver aufkommen kann, schlägt ob dieser schmerzlichen Gewissheiten nun die Stunde der Empathie.
In Zeiten, in denen alles gern in (häufig überlange) Serien-Formate gepackt wird, ist „Ramstein – Das durchstoßene Herz“ eine willkommene Abwechslung, ein Paradebeispiel eines dichten, kompakten, von jeder Zufälligkeit befreiten Einzelstücks. Das dramatische Potenzial des behandelten realen Ereignisses ist hoch, es muss nicht weiter subjektiv ausgelotet werden. Sowohl eine psychologische Vertiefung der Opfer als auch eine Ergänzung um weitere Leidensfiguren würden weder die gesellschaftspolitische Erkenntnis noch die emotionale Wirkung des Films erhöhen. Gewiss ließe sich aus dem Stoff auch eine sechsteilige Serie machen; die müsste dann aber grundlegend anders konzipiert werden. Für die gewählte Narration sind 90 Minuten die ideale Filmlänge. Und so ist „Ramstein“ nicht nur der bisher beste 90-Minüter in diesem Jahr, sondern er ist auch eine Produktion, die den etwas ins Hintertreffen geratenen Fernsehfilmmachern aufzeigt, wie es (weiter)gehen kann.