Darstellerinnen und Schauplätze wechseln, aber das Schema ist in den Freitagsfilmreihen der ARD-Tochter stets das gleiche: Eine Helferin mit Herz kümmert sich rund um die Uhr hingebungsvoll um die Nöte ihrer Patienten, hat in der Liebe aber kein Glück. Letzteres ist natürlich pures Kalkül und soll auf der horizontalen Ebene für durchgehende Spannung sorgen. Auf diese Weise erzählen „Die Eifelpraxis“, „Die Inselärztin“ oder „Praxis mit Meerblick“ im Grunde immer wieder die gleiche Geschichte. Da die medizinischen Herausforderungen recht interessant sind und die handwerkliche Umsetzung meist auf gutem Niveau erfolgt, hängt die Qualität der einzelnen Filme nicht zuletzt davon ab, wie originell die Autorinnen und Autoren das Handlungsmuster variieren; und wie gut sie die berufliche und die private Ebene miteinander verknüpfen. Bei „Praxis mit Meerblick“ mit Tanja Wedhorn ist das in der Vergangenheit mit wechselndem Erfolg gelungen. Der Auftakt, „Willkommen auf Rügen“ (2017), war sehenswert, selbst wenn die Parallelen zur früheren Reihe „Reiff für die Insel“ (auch mit Wedhorn und ebenfalls im Auftrag der ARD-Tochter Degeto produziert) unübersehbar waren. Die zweite Episode, „Brüder und Söhne“ (2018), plätscherte etwas aufregungslos vor sich hin; die dritte („Der Prozess“) war nicht nur stimmiger, sondern auch spannender, weil die Ärztin angeblich den Tod eines Patienten verursacht hatte.
Sterne-Vergabe im Detail: „Unter Campern“ erhält drei Sterne, „Auf zu neuen Ufern“ drei dicke; „Der einsame Schwimmer“ hat sich fette 3,5 Sterne verdient.
Nun zeigt ARD drei neue Filme, und gleich der erste, „Unter Campern“, ist wieder ein Rückschritt. Das Drehbuch stammt wie bei „Brüder und Söhne“ von Michael Vershinin, der unter seinem früheren Namen Michael Illner vor allem als Autor für Krimireihen und -serien bekannt ist. Regie führte wie bei „Willkommen auf Rügen“ Jan Ruzicka, der für die Degeto schon viele sehenswerte Tragikomödien („Annas Geheimnis“, „Den Tagen mehr Leben“) gedreht hat. Diesmal schafft er es jedoch nicht, die verschiedenen Erzählebenen in einen schlüssigen Handlungsfluss zu betten, weshalb „Unter Campern“ an einen Erlebnisaufsatz erinnert („und dann…“): Weil sich ihr WG- und Praxispartner Richard (Stephan Kampwirth) verlobt hat, sucht Nora Kaminski (Wedhorn) nach einer neuen Bleibe. Richard, der gerade erst eine Keimphobie überwunden hat, erleidet angesichts des neuen Beziehungsstatus’ mit Johanna (Anja Antonowicz) jedoch einen Rückfall in den alten Waschzwang. Seine Freundin wiederum fragt sich, ob Nora „tief in ihrer Seele“ eifersüchtig ist, immerhin hat sie ausgerechnet bei Richards feierlicher Verlobungsverkündung den Ring verloren.
Foto: Degeto / Boris Laewen
Auch die berufliche Ebene sorgt zunächst nicht gerade für Nervenkitzel. Campingplatzwart Kubatsky (Michael Kind), in den ersten Episoden im Hinblick auf die neue Ärztin noch sehr skeptisch, mittlerweile aber ein großer Fan, macht sich Sorgen um einen kleinen Jungen. Tim leidet offenbar unter den ständigen Spannungen zwischen seinen Eltern. Das Kind hat nicht nur Asthma und Schwächeanfälle, es macht auch jede Nacht ins Bett. Die Mutter lehnt Noras Hilfsangebote jedoch brüsk ab, weil sie ganz auf alternative Heilmethoden vertraut. Leider muss Milena Dreißig die ständig an ihrem Mann Olaf (Thomas Arnold) herumnörgelnde Frau auf eine Art verkörpern, die dem Gatten im Fall eines Mordes womöglich mildernde Umstände einbringen würde, zumal er mitten in einer dieser Tiraden einen Herzinfarkt erleidet. Die Attacke ist zum Glück nur leicht; trotzdem ist die Feststellung der pubertierenden Tochter, ihr Vater sei selbst schuld, „so wie er trinkt und raucht“, starker Tobak. Tim trifft es am Ende ungleich heftiger. Die vertikal in die Höhe steigende Kamera deutet schon sein Ableben an, weshalb es einigermaßen absurd anmutet, dass seine Mutter glaubt, ihn mit einer Handvoll Heilsteine retten zu können.
Der zentrale Handlungsstrang mit Nora und ihrem persönlichen Umfeld ist ohnehin facettenreicher und vor allem überraschender, wirkt aber wegen der vielen Subthemen wie eine Sammlung von Augenblicken; der Film erzählt nicht eine große, sondern viele kleine Geschichten. Die sind zwar dank der ansprechenden Bildgestaltung (Gunnar Fuß) sehr sympathisch, doch die Struktur ähnelt dem „Weißt du noch“-Erinnerungsaustausch alter Freunde: wie Richard aus dem Draht einer Champagnerflasche einen Verlobungsring gebastelt hat; wie Nora bei der Feier am Strand den richtigen Ring anprobiert und nicht wieder abbekommen hat, bis er in schließlich in hohem Bogen weggeflogen ist; wie sie gegen Ende gemeinsam mit Kubatsky, Olaf, ihrem Sohn Kai (Lukas Zumbrock) und Praxishilfe Mandy (Morgane Ferru) den Sand durchkämmt hat; wie sich Kai und Mandy nähergekommen sind, aber dann hat Mandy Schluss gemacht, weil sie keine Fernbeziehung wollte; wie Richard in der Praxis einen Mann namens Ritter aufgerufen hat und der auch wie ein Ritter verkleidet war; wie sich Kubatsky als Nacktmodell für einige Hobbymaler zur Verfügung gestellt hat, ein Philodendronblatt vor dem Unterleib, mit dem er Nora zur Begrüßung zugewedelt hat. Eine eigene Ebene bekommt eine Frau, die Nora zu Beginn ein Job-Angebot in Berlin unterbreitet, das die Ärztin fast nicht ablehnen kann. Dieser Strang ist deutlich besser integriert als die anderen „Und dann“-Ereignisse, weil Nora die Offerte nicht mehr aus dem Kopf geht und sie von Olaf wissen will, wie denn das Leben in Berlin so sei. Er rät ihr natürlich ebenso ab („Die Stadt geht den Bach runter“) wie Klinikärztin Pirsich (Anne Werner), die sie vor der dortigen Fließbandmedizin warnt. Dass Nora der Headhunterin immer wieder über den Weg läuft, liegt allerdings an deren chronischem Schluckauf, der sie ärgerlicherweise mitten im Rendezvous mit einem Fischer ereilt hat. Schließlich endet „Unter Campern“ mit zwei Überraschungen. Die eine ist amüsant und bezieht sich auf den heimlichen Auftraggeber der Anwerberin, die zweite ist betrüblich und nur deshalb kein Schock, weil am Schluss verräterisch ausführlich gezeigt wird, wie Richard mit seinem Motorrad über die Insel braust; Nora, eben noch guter Dinge, steht derweil erschüttert in der Brandung, als habe sie den Hauch des Todes gespürt.
Beim zweiten Film, „Der einsame Schwimmer“, wirkt die Komposition flüssiger; die verschiedenen Ebenen laufen nicht nebeneinander her, sondern werden stimmig mit dem roten Faden des Films kombiniert. Das funktioniert viel besser als in „Unter Campern“. Dort war die Geschichte über den kleinen Jungen wie ein Planet, der ein Zentralgestirn umkreist. Hier jedoch haben die Ereignisse konkreten Einfluss auf den Lebensweg Noras: Nach dem Tod Richards ist klar, dass sie die Praxis nicht allein weiterführen kann, zumal sie nur auf Honorarbasis gearbeitet und gar keine eigene Zulassung hat. Allein könnte sie die Aufgaben nicht zuletzt wegen ihrer Nebentätigkeit als Notärztin ohnehin nicht bewältigen. Das Angebot von Richards Onkel, der ihr das Inventar zu einem immer noch stattlichen Freundschaftspreis überlassen will, kann sie daher nicht annehmen. Gunsche (Bernd Stegemann) hat die Praxis vor Jahren seinem Neffen überlassen, springt aber vorübergehend ein.
Foto: Degeto / Boris Laewen
Soundtrack:
(1) Red Hot Chili Peppers („Snow“), Radiohead („Fake Plastic Trees”), Portugal. The Man („Feel It Still”), Ozzy Osbourne („Dreamer”), Ry X („Berlin”, „Howling”), Neil Young („Harvest Moon”), Eels („The Deconstruction”). (2) Ane Brun & Linnéa Olsson („Halo”), Robert Plant und Alison Krauss („Nothin’”), Michael Kiwanuka („Cold Little Heart”). (3) Aimee Mann („Charmer”, „Looking for Nothing”), Cat Power („In Your Face”, „Black”), Robert Forster („Let Your Light In, Babe”), Radiohead („Exit Music”), Avi Buffalo („Truth Sets In”)
Marcus Hertneck, der zuvor schon an sämtlichen Drehbüchern für „Reiff für die Insel“ beteiligt war, hat mit der dritten Episode, „Der Prozess“, auch die bislang beste „Praxis“-Folge geschrieben. Die Qualität des insgesamt fünften Films dürfte daher nicht zuletzt seinem dramaturgischen Talent zu verdanken sein, zumal es ihm gelingt, die Spannung sowohl im Haupt- wie auch im wichtigsten Nebenstrang parallel zu steigern: Während der Trauerfeier für Richard entdeckt Nora einen Schwimmer, den offenbar die Kräfte verlassen haben. Jonas (Helgi Schmid) hat soeben sein Medizinstudium beendet und trainiert für einen Triathlon. Er ist überzeugt, dass er unter einer bipolaren Störung leidet, die er mit entsprechenden Medikamenten bekämpft; Praxishilfe Mandy hat ihm ein Blankorezept mit Noras Unterschrift besorgt, was ihr später noch viel Ärger einbringen wird. Zunächst muss Nora jedoch das Leben des zwischenzeitlich in die Psychiatrie eingelieferten jungen Mannes retten, denn sie findet heraus, dass seine Aussetzer eine ganz andere Ursache haben.
Der deutlichste Unterschied zu „Unter Campern“ liegt in der wechselseitigen Beeinflussung der verschiedenen Ebenen. So spielt zum Beispiel eine scheinbar misslungene kosmetische Operation unversehens eine wichtige Rolle, weil Klinikarzt Heckmann (Patrick Heyn) stärker ins Zentrum rückt: Ausgerechnet der Oberarzt, mit dem Nora immer wieder beruflich aneinandergerät, gibt sich plötzlich ganz handzahm und bietet ihr die Leitung der Notaufnahme an. Der Sinneswandel hat jedoch seine Gründe: Heckmann entpuppt sich als Konkurrent um die Zulassung, weil er in Richards Räumlichkeiten eine Praxis für Schönheitschirurgie aufmachen will. Ähnlich klug sind die Beziehung zwischen Mandy und Kai und sein Liebeskummer integriert: Eigentlich ist er schon auf dem Weg nach Berlin, als er sich plötzlich mit gleich zwei Notfällen konfrontiert sieht, weil nicht nur Jonas auf seinem Fahrrad, sondern auch sein Fahrer Kubatsky kollabiert. So bekommen sämtliche Mitwirkenden wichtige Auftritte und sind nicht bloß Stichwortgeber für die Hauptfigur. Auch Noras Ex-Mann Peer greift entscheidend in die Handlung ein; Dirk Borchardt nimmt dank seiner Präsenz umgehend eine prägende Rolle ein.
Foto: Degeto / Boris Laewen
Die gute Arbeit mit den Schauspielern ist ohnehin ein Qualitätsmerkmal von Jan Ruzicka, der auch diesen zweiten von drei neuen Filmen inszeniert hat. Davon profitieren nicht zuletzt die jungen Darsteller. Lukas Zumbrock macht seine Sache als Kai erneut ausgezeichnet, und Morgane Ferru imponiert diesmal zusätzlich als Sängerin. Auch die mal schwungvolle, mal wegen der Trauer um Richard angemessen ernste Musik von Jan Janssons passt sehr gut zu den wechselnden Stimmungen des Films. Trotzdem gibt es einige komische Momente, sogar im Zusammenhang mit dem Tod, die aber nicht pietätlos sind: Nach der abgebrochenen Zeremonie erkundigt sich Kubatsky vorsorglich bei der betrübten Johanna, ob die wasserlösliche Urne womöglich nass geworden sei; „nicht, dass er da rausrieselt.“ Später rät er Kai, mit Mandy in die Disco zu gehen und Kinder zu machen, „im Fernsehen läuft ja nix.“ Nicht zuletzt wegen solcher Dialoge war es eine ausgezeichnete Entscheidung, den anfangs notorisch unwirschen Patienten zum zwar immer noch kantigen, aber durchaus sympathischen Sonderling werden zu lassen. Weitere witzige Elemente wie etwa das übersehene Verkaufs-Etikett am Arztkittel des Onkels inszeniert Ruzicka beiläufig. Trotzdem wird der Doktor nie zur Witzfigur, zumal Stegemann sogar die Narkolepsie des Mannes mit Würde verkörpert: Gunsche ist beim Ausstellen eines Rezepts eingeschlafen, wacht wieder auf und schreibt ungerührt weiter. Dank der gelungenen Mischung aus behutsam heiteren und besinnlichen Szenen passt dieser Film ohnehin viel besser zu Ruzickas Filmografie als „Unter Campern“.
Der Abschluss der Trilogie, insgesamt gesehen Episode sechs, bringt dem Titel gemäß die verschiedenen Handlungsebenen zu einem Ende; und meistens auch zu einem guten, vor allem für Nora, die dank einer Bürgschaft ihrer Vermieterin und neuen mütterlichen Freundin Roswitha (Petra Kelling) Richards Praxis übernehmen kann. Kein Happy End gibt es dagegen für Kai; die von Nora wegen der Rezeptfälschung entlassene Mandy kehrt zwar zurück, aber nur in die Praxis. Buch (Anja Flade-Kruse) und Regie (Joseph Orr) haben gewechselt, doch „Auf zu neuen Ufern“ knüpft dramaturgisch recht nahtlos an „Der einsame Schwimmer“ an, selbst wenn die zentrale medizinische Aufgabe wie im ersten Teil der Trilogie wieder deutlich stärker parallel verläuft: Eine Bäckersfrau hat eine schlimme Entzündung im Knie und muss ins Krankenhaus. Es dauert eine Weile, bis Nora klar wird, dass die Ursache der Schmerzen eine Hormonbehandlung zwecks künstlicher Befruchtung ist. Viel interessanter sind die diagnostischen Differenzen mit Heckmann; da sich der Oberarzt nun doch nicht selbstständig macht, haben die Begegnungen auch wieder die alte Bissigkeit. Das gilt interessanterweise auch für den neuen Praxiskollegen: Weil sich verschiedene Kandidatinnen disqualifizieren, was Buch und Regie für einige Seitenhiebe nutzen (eine Bewerberin befreit Nora mit Hilfe eines Pendels erst mal von ihren negativen Energien), bleibt nur noch ein Arzt aus der Schweiz. Hannes Stresow ist sogar gebürtiger Rügener, will aber nur ein Jahr bleiben: Seine Schwester hatte einen Schlaganfall; er kümmert sich um ihre Kinder, bis sie wiederhergestellt ist. Richtig warm wird Nora mit dem Kollegen, der sich brüstet, pro Patient bloß sieben Minuten zu brauchen, allerdings nicht, und auch Mandy rasselt erst mal ordentlich mit ihm zusammen. Die Besetzung mit dem hierzulande zwar regelmäßig, aber stets nur in Episodenrollen besetzten und entsprechend unbekannten Zürcher Benjamin Grüter könnte auch ein Zeichen dafür sein, dass dem Doktor tatsächlich keine größere Zukunft in der Reihe beschieden ist. Prompt sind die Szenen mit Peer Kaminski, der sich zurück an die Seite seiner Ex-Frau wünscht, deutlich interessanter; außerdem sorgt Dirk Borchardt für die verblüffendste Slapstickszene der Trilogie, als sich Peer auf absurde Weise das Steißbein bricht. Trotzdem erreicht „Auf zu neuen Ufern“ unterm Strich nicht die Qualität des zweiten Teils. Sinnbildlich dafür ist die Musik: Während Jan Janssons die Stimmungen in den beiden anderen Filmen sehr schön aufgenommen und vertieft hat, erinnern seine diesmal oft bloß wenige Akkorde kurzen Zwischenspiele an die austauschbaren Klänge, mit denen das Kompositionsunternehmen Dynamedion die akustischen Lücken in RTL-Serien stopft.