Man darf ihn als „Polizeiruf 110“-Spezialisten bezeichnen – und er versteht es wie kaum ein anderer, Geschichten über Menschen in enger Verbindung mit Landschaften zu erzählen: Bernd Böhlich, zweifacher Grimme-Preisträger („Landschaft mit Dornen“, „Polizeiruf 110: Totes Gleis“). Jetzt hat er mit „Vor allen Augen“ seinen 10. Film der Reihe gedreht und – wie schon bei Lenskis Debüt – auch das Buch dazu geschrieben. Es ist eine ruhige, intensive und atmosphärische Verlierer-Ballade über Zukunftsängste, Strukturwandel und Gewinnstreben. Beeindruckend die Bildsprache, stark der Auftritt von Otto Sander und mittlerweile wunderbar eingespielt – Maria Simon und Horst Krause als Ermittlerduo in Brandenburg.
Nach einem Betriebsausflug der Bootswerft Stolze in die Westernstadt „Lucky City“, erleidet Geschäftsführerin Michaela Stolze (Catherine Flemming) am nächsten Morgen nach einem Bad im anliegenden See einen Zusammenbruch und kommt ins Krankenhaus. Sie leidet seit mehreren Jahren an starker Diabetes und muss sich regelmäßig mit Insulin versorgen. Hat sie vergessen, ihr Medikament zu nehmen? Der Arzt glaubt nicht daran, zumal die Frau nackt im Saloon gefunden wurde. Die Situation bleibt zunächst rätselhaft. Ein Fall für Kommissarin Olga Lenski (Maria Simon) und Polizeihauptmeister Krause (Horst Krause). Schnell wird klar: Die Mitarbeiter der Bootswerft halten nicht viel von ihren neuen Chefin. Der Firma geht es wirtschaftlich schlecht, und Michaela Stolze führte ein strenges Regiment, um dringend notwendige Veränderungen durchzusetzen. Während sie im Krankenhaus um ihr Leben kämpft, kommt es zu einem weiteren Vorfall: Ein hochprozentiges, giftiges Lösungsmittel wurde in die Infusion der Kranken geschüttet. Wer steckt hinter dem Mordanschlag – Konstrukteur Gisbert Franke (Martin Feifel), dessen Gefühle von seiner Chefin nicht erwidert werden, Michaelas Vater Ludwig Stolze (Otto Sander), der behauptet, seine Tochter zu hassen, weil sie seine Firma in den Ruin treibt, und Werftleiter Jens Petzold (der kürzlich verstorbene Sven Lehmann), der Angst hat, der Zukunft der Firma nicht gewachsen zu sein?
Es ist die Bildsprache, die diesen Krimi sehenswert macht. Allein die Kamerafahrt, als Kommissarin Lenski die Westernstadt betritt, ist ein Augenschmaus (Kamera: Florian Foest). Bernd Böhlich spielt mit der Landschaft Brandenburgs – gedreht wurde in Templin in der Uckermark, in Beelitz und in Gröben. Seine Bilder sind zuweilen wie kleine Gemälde, Stillleben – und mittendrin die Protagonisten, Enttäuschte und Verlierer der wirtschaftlichen Entwicklung. Damit es nicht zu trist wird, darf Maria Simon als Olga Lenski austeilen. Mit trockenem Witz und – wie immer – unterstützt vom herrlich skurrilen Krause geht sie auf Tätersuche. „Ich bin der Sheriff“ raunzt sie dem Boss der Westernstadt entgegen, mit einem „Haben sie verstanden, Chief Krause?“ schickt sie ihren Assistenten auf Beweissuche. Und dann ist da ja noch einer, der wieder mal eine kleines Stück große Schauspielkunst liefert: Otto Sander. Vor Jahren war er in drei „Polizeiruf 110“-Fällen gemeinsam mit seinem Stiefsohn Ben Becker als Streckenwärter Lansky im Einsatz. Jetzt gibt er den Vater der Werft-Chefin, eine kantig-herbe Rolle, die Sander mit aller Routine und Perfektionsstreben spielt. Der vierte „Polizeiruf 110“-Fall von Maria Simon zeigt, welches Potential diese wandelbare Schauspielerin hat und wie gut sie mit ihrer Figur der Olga Lenski in diese Landschaft passt. Sie hat schnell ein Gespür für die Gefühls-, Vernunft- und Sinneswelt der Olga gefunden, agiert mal energisch, überlegt, subtil, mal behutsam und stets mit feinem Witz.
Ein typischer Böhlich-Film, könnte man sagen. „Vor allen Augen“ lebt nicht so sehr von der Spannung. Der Regieautor rückt die Menschen und die Landschaft in den Mittelpunkt, erzählt Geschichten von Enttäuschten und Verlierern. Böhlichs Stil mag nicht jeder, er ist für einen Krimi eher ungewöhnlich. Gerade das gibt ihm etwas Eigenes und macht ihn sehenswert.