Polizeiruf 110 – Totes Rennen

Michelsen, Maertens, Dähnert/Lau, Torsten C. Fischer. Brasch bringt sich in Gefahr

Foto: MDR / Stefan Erhard
Foto Rainer Tittelbach

Nach dem Abgang von Matthias Matschke gibt im „Polizeiruf 110 – Totes Rennen“ (MDR / filmpool fiction) Claudia Michelsen ein Ermittler-Solo. Unterstützt wird ihre Doreen Brasch von ihrem Chef; außerdem bekommt sie es bei dem Fall, der sie ins Zocker- und Wettmafia-Milieu hautnah eintauchen lässt, mit einem LKA-Mann zu tun, der ihr zwar wichtige Tipps gibt, dem sie aber – wie gewohnt – partout nicht vertrauen mag. In seiner dramaturgischen Anlage erinnert der „Polizeiruf 110 – Totes Rennen“ an die Matthias-Brandt-Ableger der Reihe, in der der Kommissar stets mit einer ungewöhnlichen Episoden-Hautfigur konfrontiert wurde und Brandt es mit einem hochkarätigen Kollegen zu tun bekam. Der wieder einmal extrem nuanciert aufspielenden Michelsen wurde Theater-Gigant Michael Maertens an die Seite gestellt. Dieses Duo ist mehr als die halbe Miete. Und wie Torsten C. Fischer und die Gewerke die Geschichte ästhetisch aufbereiten, das hat viel Atmosphäre und sorgt für einen filmischen Flow, der einen über kleine Drehbuch-Ungereimtheiten hinwegsehen lässt.

Tatort-Begehung am Morgen. Ein Mann, Ende 20, liegt tot am Elbufer, unweit der Galopp-Rennbahn Herrenkrug. Der Fundort könnte im Zusammenhang stehen mit der Spiel- und Wettsucht des Toten. Nach dem Abgang von Kommissar Köhler muss jetzt sogar Kriminalrat Lemp (Felix Vörtler) im Außendienst aushelfen. Und wann Doreen Brasch (Claudia Michelsen) ausfällt, wäre mit solchen Schulterproblemen und Schmerzmitteln bei anderen Kollegen nur eine Frage der Zeit. Doch das Milieu der Wettbüros scheint sie zu faszinieren, regelrecht zu narkotisieren. Hannes Kehr (Michael Maertens), ein Kollege, hat Brasch eine kleine Einführung gegeben in die Geheimnisse der Spielsucht und die Methoden der Wettmafia. Er arbeitet unter Martina Rössler (Therese Hämer) beim LKA und ist seit zwei Jahren an bundesweiten Ermittlungen gegen die Wettmafia beteiligt. In Magdeburg laufen offenbar die Fäden zusammen. Der Tote (Vincent Krüger) war sein Informant. Deshalb würde er entgegen der Anweisung seiner Chefin gern mit Brasch zusammenarbeiten; ja er spielt sogar mit dem Gedanken, das LKA zu verlassen und in ihrer Abteilung anzuheuern. Sein Insiderwissen ist für Brasch Gold wert – und doch scheint sie ihm nicht hunderprozentig zu vertrauen. Ist ihre Vorsicht berechtigt oder ist es mal wieder ihr altbekanntes Problem?

Polizeiruf 110 – Totes RennenFoto: MDR / Stefan Erhard
Chemie wirkt Wunder: Brasch lacht. Wenig später wird ihr das Lachen vergehen. Berufszocker Micky (Martin Semmelrogge) hat noch was mit der Kommissarin vor.

„Warum laufen uns eigentlich immer die Kollegen weg? Liegt’s an mir?“, fragt die Kommissarin gleich in der ersten Szene ihren Chef. Nach Sylvester Groth, der vier Mal den Stubenhocker Jochen Drexler gab, hat nun auch Matthias Matschke den „Polizeiruf 110“ aus Magdeburg verlassen. Schade, sein Köhler und Claudia Michelsens Brasch hatten sich nach den üblichen Anfangsanimositäten auf einen kollegialen Nichtangriffspakt verständigt – und auch die Fälle und die filmische Umsetzung konnten sich zuletzt sehen lassen. In „Totes Rennen“ gibt nun die schwierige Kommissarin weitestgehend ein Solo. Unterstützt wird sie freundschaftlich von ihrem Chef, der immer schon als einziger mit ihr gut konnte, und von Oberkommissar Günther Márquez (Pablo Grant), dem neuen Mann für die Fakten-Recherche und für IT-Sonderaufgaben; auch Rechtsmediziner Manfred Muser (Henning Peker) wird etwas häufiger als sonst zu Rate gezogen. Die Todesnachricht überbringen den Eltern (Torsten Ranft & Catherine Flemming) noch Lemp und Brasch gemeinsam, doch dann geht die Kommissarin allein ihrer Wege – mittenrein ins zwielichtige Wettbüro-Ambiente. Außerdem hat sie einen Traum: Sie und Kehr auf der Rennbahn. „Es war kein schöner Traum“, sagt sie. Hat sie Visionen, den siebten Sinn? Dann verkennt sie die Lage – und gerät bei der aufschlussreichen Befragung eines hauptberuflichen Zockers (Martin Semmelrogge) in große Gefahr. Trotzdem muss der Tod der LKA-Vertrauensperson nicht zwingend mit der Wettmafia zu tun haben. Auch aus extremer Ko-Abhängigkeit könnten sich Mordmotive ergeben.

Polizeiruf 110 – Totes RennenFoto: MDR / Stefan Erhard
Missglückter SEK-Einsatz. Brasch (Michelsen) misstraut Kehr (Michael Maertens). Sie verlangt nach seinem Handy. Der LKA-Mann reicht es ihr bereitwillig. Dann wird er deutlich: „Tun Sie das nie wieder!“ Auch Kriminalrat Lemp (Vörtler) ist empört.

In seiner dramaturgischen Anlage erinnert der „Polizeiruf 110 – Totes Rennen“ an die Ableger der Reihe mit Matthias Brandt. Ein Ermittler wird konfrontiert mit einer ungewöhnlichen Episoden-Hautfigur. Ein solcher Antagonist muss nicht zwingend der Täter sein. Dieser Hannes Kehr ist allerdings schwer zu durchschauen. Das muss er auch sein bei einem Krimi, der darauf verzichtet, Verdächtige an der Leine durch die Whodunit-Manege zu führen. Will dieser Mann helfen? Wird er von Braschs manischer Art angezogen? Oder mischt er sich ein, weil er Kontrolle über den Fall bekommen möchte? Oder will er den Absprung kriegen aus einer Abteilung, deren Methoden er nach dem Tod seines Informanten nicht mehr mittragen kann? Auf jeden Fall ist Kehr ein sensibler, gegenüber der Kommissarin sehr offener Polizist, der selbst Sucht-Erfahrungen gemacht hat. Eine gewisse Affinität zwischen den beiden liegt also in ihrer Wesensart begründet – das haben die Autoren Stefan Dähnert („Tatort – Die Pfalz von oben“) und Lion H. Lau („SOKO Leipzig“) stimmig im Drehbuch verankert. Dass dieses Duett, bei dem man nie so genau weiß, ob es nicht doch zum Duell mutieren könnte, mitunter sogar so faszinierend ist, dass man den Krimifall glatt vergisst, liegt an den Schauspielern.

Claudia Michelsen dabei zuzuschauen, wie ihre Doreen Brasch in einer jener Sportwetten-Kaschemmen abstürzt, wie ihre Lust am Zocken genährt wird durch das Klingeln der Münzen im Spielautomaten, das ist spannender als jede Verfolgungsjagd. Und was sonst abgeht, wenn ihr Gesicht nicht im atmosphärischen Halbdunkel des Films versinkt, diese minimalen Regungen der Gesichtsmuskulatur, dieses beredte, aber nie zu beredte Spiel ihrer Augen, das ist große Schauspielkunst – auch oder gerade weil es im „Polizeiruf“ nicht um das ganz exklusive existentielle Drama geht; schließlich muss neben der Seele der Kommissarin ja auch noch der Krimi funktionieren. Und Theater-Gigant Michael Maertens („Vorsicht vor Leuten“), seit Jahren festes Mitglied am Wiener Burgtheater, ist auch im Film ein Ereignis: sein Hannes Kehr ist schon auf dem Papier vielschichtig, aber der 56jährige gebürtige Hamburger macht aus ihm ein Rätsel auf zwei Beinen – charismatisch, nicht unsympathisch, selbstbewusst und selbstkritisch zugleich, ein Mann, der Schwächen zeigen und zugeben kann, aber auch sehr bestimmt contra gibt („Tun Sie das nie wieder“), wenn die Kollegin zu weit geht.

Polizeiruf 110 – Totes RennenFoto: MDR / Stefan Erhard
Hat Kommissarin Brasch (Michelsen) Visionen oder sind es Alpträume? Sie weiß nicht mehr, was sie glauben soll. Kommt es auf der Rennbahn zum Showdown?

Um nicht zu Szenen-lastig zu wirken, verlangt die reduzierte, auf wenige Schauspieler konzentrierte Handlung mit einigen längeren Dialogpassagen der Regie einiges ab. Torsten C. Fischer nimmt die Herausforderung an und hat passende Inszenierungsideen, die auf sehr markante und entsprechend wirkungsvolle Signalbilder setzen, gleichzeitig etabliert er einen filmisch flüssigen, an den Charakteren orientierten Erzählstil. Bereits das Intro, eine wilde, beängstigende Montage, der Bildschirm in monochromes Rot getaucht, ist die Vorwegnahme eines Alptraums der Heldin, der später im Film auftaucht. Das alles sind keine bloßen Effekte, sondern es passt gut zu Braschs Verfassung, die sich im Laufe der Handlung von einer physischen (Schulterbeschwerden) zu einer psychischen Beeinträchtigung (Überfall) auswächst. Zur Halbzeit gibt es eine Art Zwischenstopp: eine atmosphärische Montage zu den melancholischen Klängen von „Forever Young“, auf der E-Gitarre angeschlagen von Felix Vörtler alias Uwe Lemp. Eine wunderbare Zugabe. Ansonsten werden in verbalen Erzählungen Rückblenden des Besagten eingeschnitten, auch werden die Ereignisse der Mordnacht visuell und äußerst originell (über die Daten eines Fitness-Trackers) rekonstruiert. Wort und Bild werden auch in anderen Situationen reizvoll kombiniert: Da weiht der LKA-Mann auf der Ton-Ebene Brasch noch in die Geheimnisse des kriminellen Zocker-Milieus ein, während sich die Kommissarin im Bild bereits mit dieser fremden, seltsamen Welt bekannt macht. Die Kamera trägt in den wichtigsten Szenen mit ihrer starken physischen Präsenz, mit ihrem klugen Spiel mit (Un-) Schärfe und extremen Einstellungsgrößen, mit der Dunkelheit, die bewusst vieles nicht preisgibt, und den erwähnten Farbknallern das Übrige zu einem filmischen Flow bei, der einen auch über kleine Drehbuch-Ungereimtheiten (was für ein Zufall, dass in der Mordnacht gleich zweimal das „Schicksal“ zuschlägt) hinwegsehen lässt.

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Reihe

MDR

Mit Claudia Michelsen, Michael Maertens, Felix Vörtler, Pablo Grant, Henning Peker, Martin Semmelrogge, Torsten Ranft, Catherine Flemming, Therese Hämer, Vincent Krüger, Anke Retzlaff, Benjamin Kramme

Kamera: Theo Bierkens

Szenenbild: Martin Schreiber

Kostüm: Manuela Nierzwicki

Schnitt: Horst Reiter

Musik: Warner Poland, Wolfgang Glum

Redaktion: Johanna Kraus

Produktionsfirma: filmpool fiction

Produktion: Iris Kiefer, Ilka Förster

Drehbuch: Stefan Dähnert, Lion H. Lau

Regie: Torsten C. Fischer

Quote: 7,56 Mio. Zuschauer (21,9% MA)

EA: 16.02.2020 20:15 Uhr | ARD

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