Die Kripo Rostock bekommt es mit einem besonders grausamen Verbrechen zu tun. Eine alleinerziehende Mutter wurde mit einem Küchenmesser massakriert, der gelähmte Sohn nebenan starb an einem Schlaganfall. Eine befreundete Nachbarsfamilie, die hochschwangere Jule Genth (Susanne Bormann), ihr Mann Holger (Jörn Knebel) und ihre Pflegetochter Emma (Paraschiva Dragus), sind in heller Aufregung. Nicht nur wegen des Mordes, sondern auch, weil ihr zweites Pflegekind, der 16jährige Max (Alessandro Schuster), seit Tagen nicht nach Hause gekommen ist. Der Verdacht, dass der schwer drogen- und medikamentenabhängige Teenager etwas mit dem Mord zu tun haben könnte, ist nicht abwegig. Der Junge hat eine bewegte Vergangenheit. Weil er zu viel über einen osteuropäischen Mafia-Clan weiß, befindet er sich im Zeugenschutz. Von Chef Röder (Uwe Preuss) gibt es dementsprechend für Katrin König (Anneke Kim Sarnau) eine klare Ansage: „Kein Wort über den Jungen – zu niemandem!“ Und so ermitteln Pöschel (Andreas Guenther) und Thiesler (Josef Heynert) wenig erfolgversprechenden Spuren des Dating-hyperaktiven Mordopfers hinterher, während König, genervt nach Bukows Abgang, ihre Wunden leckt. Ganz große Augen macht sie, als plötzlich Melly Böwe (Lina Beckmann), die Halbschwester von Bukow, eigentlich Kripo-Beamte in Bochum, vor ihr steht – und meint, in dem Fall das Sagen zu haben.
Foto: NDR / Christine Schroeder
Keine Angst, die Zuschauer erwartet im ersten Rostocker „Polizeiruf 110“ ohne Charly Hübner nicht der übliche Zickenkrieg im Dienst, den Autoren Kommissarinnen-Duos gern ins Drehbuch schreiben. Das erste Aufeinandertreffen der Kolleginnen, die künftig in der Hansestadt gemeinsam ermitteln werden, ist nicht mehr als eine Momentaufnahme, eine Irritation auf Seiten der erfahrenen LKA-Frau über das als übergriffig empfundene Verhalten einer externen Kollegin. Beim zweiten Zusammentreffen entspannt sich die Lage deutlich, nicht zuletzt, weil die Frau aus dem Ruhrpott zwar sehr direkt sein kann, aber auch eine herzliche, weiche Seite besitzt. Böwe weiht König in die persönlichen Hintergründe des flüchtigen Max‘ ein. Die Aufträge bleiben allerdings unterschiedlich: Sie sucht ihren Schützling, König und ihre Kollegen stochern dagegen ziellos im Mordfall herum, bis die beiden Ermittlerinnen zum selben Schluss kommen: Der Schlüssel zum Mord muss in der besonderen Beziehung der Toten und ihres schwerbehinderten Sohns zur Nachbarsfamilie Genth zu suchen sein. Dass diese Familie mit ihrem neureichen Gehabe nicht „echt“ sei und der labile Max nicht gut für seinen lebensmüden Sohn war, das deutet der Ex-Mann der Ermordeten (Paul Ahrens) früh schon gegenüber König an
Redaktion, Produzentinnen und Autor Florian Oeller haben sich für einen ungewöhnlichen Einstieg der Neuen entschieden, einen mit tief sitzendem psychologischem Konfliktpotenzial. König will nach zwei Monaten die Lücke, die Bukow beruflich und vor allem emotional bei ihr hinterlassen hat, endlich schließen. Da taucht ausgerechnet Melly Böwe, seine Halbschwester auf. Die beiden hatten bereits kurz das Vergnügen – in der Episode „Sabine“ (März 2021). Nun führt sie ein Fall mit zwei Zugängen, ein Mord, ein junger Mann im Zeugenschutzprogramm unter Tatverdacht, zufällig wieder zusammen. Das sorgt für zwei Perspektiven, für einige Parallelhandlungen, bei denen der Zuschauer mehr weiß, für Dissonanzen, aber auch für Abwechslung. Neben dem Schlag, den Böwes plötzliches Auftreten König beruflich wie seelisch versetzt, eröffnet diese Ausgangssituation vor allem feinere psychologische Nuancen als ein konventioneller Neustart. Die von außen Kommende kann im Umfeld eines persönlichen Falles mehr von sich zeigen, als es bei einem gemeinsam ermittelten Mord möglich wäre. So lernt der Zuschauer sie schneller besser kennen.
Foto: NDR / Christine Schroeder
Geradezu mütterlich geht Böwe mit dem jungen Mordverdächtigen um, nachdem sie ihn aufgespürt hat. „Hab‘ ich dir wehgetan?“ Sie entschuldigt sich dafür, dass sie sich als seine Betreuerin zu wenig um ihn gekümmert habe. Sie ist ganz anders als die spröde, oft rüde Katrin König, die sich über die Jahre dem Straßenköter Bukow angeglichen und es mit dem Gesetz zuletzt nicht immer so ernst genommen hat. Während sich der Halbbruder nie von seinen kriminellen Familienbanden völlig befreien konnte, quasi das dunkle Wesen darstellte, wollen die Verantwortlichen nun eine Frau der sich nach Heilung und Neubeginn sehnenden König an die Seite stellen, die sich für die helle Seite des Lebens entschieden hat. Nimmt man „Seine Familie kann man sich nicht aussuchen“ als Wegweiser für die Zukunft, dürfte der „Polizeiruf 110“ aus Rostock auch künftig dunkel, abgründig und ambivalent genug bleiben. Die stärksten, nachhaltigsten Szenen dieser „Polizeiruf“-Episode sind die mit Anneke Kim Sarnau und Lina Beckmann. Die Neugier also ist geweckt.
Der Filmtitel bezieht sich mehr noch als auf das Geschwisterpaar Bukow/Böwe auf die Geschichte um die Genths, die in der Vorstadthölle von Rostock verzweifelt nach dem kleinen Glück suchen, aber offensichtlich nicht in der Lage waren, ihren beiden Pflegekindern ausreichend Liebe entgegenzubringen. Die Verlinkung von Holger Genths vermeintlich „selbstmitleidiger“ Familienbeschreibung mit dem Mutterbild, das Melly Böwe verkörpert, ist für den Geschmack des Kritikers allerdings ein bisschen zu offensichtlich. Gleiches gilt für die parallelen Backanstrengungen der Hauptfiguren (Muffins-Königin vs. Sauerteig-Patientin) zu Beginn des Films. Und auch die Schlusspointe kann man für deutsch doof halten. Eine solche Zeichensymbolik entspricht weder dem Realismus des Rostocker Reihenablegers noch dem von Stefan Krohmer, der ja bekannt ist für einen Dramaturgie-entschlackten Erzählstil. In der eher nüchternen Bildsprache indes treffen sich die Erzähltraditionen von Reihe und Regisseur. Die bewegliche Kamera ist immer nah an den Figuren, Alltägliches dominiert, Räume können einem etwas über die Charaktere sagen, aber erst beim zweiten Hinsehen (eine Qualität!). Ästhetik ist kein Wert an sich, und sie hat in einer Geschichte wie dieser nicht viel verloren.
Foto: NDR / Christine Schroeder
Dieser „Polizeiruf“ ist zwar wie ein klassischer Krimi grundstrukturiert, Bilder, Dramaturgie und Geschichte folgen aber eher dem Wesen eines Dramas. Das entspricht Regisseur Krohmer, der es auf nur zwei Crime-verdächtige Einzelstücke, „Die Erpressung – Ein teuflischer Pakt“ (2001) und „Ein toter Bruder“ (2005), in 22 Jahren und ebenso vielen Filmen gebracht hat. Während man als Zuschauer in der ersten Filmhälfte eher distanzierter Beobachter ist, der sich selbst ein Bild machen kann, der etwas ahnt, der spekuliert oder einfach nur zuguckt, gewinnt der Film im Schlussdrittel enorm an Intensität und innerer Spannung. Dabei bleibt er Drama, er bleibt bei seinen Figuren, insbesondere den Kommissarinnen, die mit einem psychologischen Trick ein Verhör erfolgreich abschließen, wobei Oeller auch noch Königs Status als Pflegetochter geschickt ins Spiel bringt. „Seine Familie kann man sich nicht aussuchen“ ist ein in sich stimmiges Krimidrama, das vor allem auch als Charakterstudie der „Heldinnen“ taugt. Es ist somit eine klug konzipierte Übergangsepisode, die einen vielversprechenden Vorgeschmack gibt auf das, was kommen wird. (Text-Stand: 26.3.2022)