Sabine Brenner (Luise Heyer) ist am Ende. Die junge Frau hat keine Kraft mehr. Ihr sozialer Abstieg findet ihren Höhepunkt mit der Schließung der Arunia-Werft, wo die gelernte Schweißerin die letzten Jahre nur noch als Küchenhilfe mit Zeitarbeitsvertrag angestellt war. Sie hat durchgehalten für ihren Sohn (Ilja Bultmann), der es mal besser haben soll. Jetzt sitzt sie in ihrer Plattenbauwohnung und hantiert mit einer Waffe. Noch ist es nur eine Übung. Am Tag darauf will sie ernst machen. Sie hat alles akribisch geplant. Doch sie schafft es nicht, abzudrücken – und dann dieser Brüllhans von nebenan, der mal wieder seine Frau verprügelt! Statt sich den Gnadenschuss zu geben, erschießt sie den Nachbarn. Danach wirkt sie geradezu erleichtert. Warum sich nicht öfter in diesen sehr viel angenehmeren Zustand versetzen?! Und es gibt doch noch so viel „Arschlöcher“ in Rostock… Erst ein zweiter Toter lenkt die Aufmerksamkeit von Bukow (Charly Hübner) und König (Anneke Kim Sarnau), mittlerweile ein Paar oder zumindest Bettgenossen, auf die bislang völlig unverdächtige Brenner.
Die im Dunkeln sieht man nicht. Der „Polizeiruf – Sabine“ erzählt von einer jungen Frau, die nur noch kraftlos durch ihren Alltag taumelt, die jeglichen Realitätsbezug verloren hat und die aus Erschöpfung und aus der Demütigung heraus, die sie laufend erfährt, plötzlich Rot sieht und vom Opfer zum Täter wird. Der erste Mord ereignet sich erst nach einer knappen halben Filmstunde. Der Zuschauer hat die Titelfigur also hinreichend kennengelernt, weiß um ihre seelische Verfassung und erahnt ihren geplanten Suizid. Mit den Augen dieser jungen Frau – ihrem müde-apathischen Blick geistiger Umnachtung – verfolgt man das Geschehen. „Sabine führt uns durch ihre Welt, aber auch durch diesen Krimi“ so Regisseur Stefan Schaller („Aus der Haut“). Die Kommissare können lange Zeit nur reagieren. Selbst als Sabine als Täterin ausgemacht ist, kann auch Profilerin König die möglichen Opfer nicht vorausahnen, da sie das Muster dieser Serienmörderin wider Willen nicht kennt. Je länger der Film dauert, umso stärker aber nehmen die Kommissare die Zügel in die Hand. Kann man den Feldzug gegen die, von denen Sabine Brenner massive Kränkungen erfuhr, auch ein Stück weit verstehen, so werden deren Taten nicht verharmlost, sondern bleiben moralisch verabscheuungswürdig. Mit dem Abdriften in den Wahnsinn und der zunehmenden Ermittleraktivitäten wird ohnehin die Identifikationsbereitschaft des Zuschauers von der Mörderin in Richtung der Kommissare verschoben. Deren Paar-Beziehung macht sie zudem sanfter und emotional verletzlicher.
„Sabine“ ist eine herausragende Episode des stets guten, oft sehr guten „Polizeiruf“ aus Rostock. Der Film beginnt als ein tief berührendes (Sozial-)Drama, das eine im Fernsehen vergessene vermeintliche Randgruppe der Gesellschaft in den Mittelpunkt rückt. Während man sieht, wie die Werft-Schließung (firmen)politisch abgewickelt wird, probt eine junge Frau, die den versuchten Arbeitskampf nur noch als ein Grundrauschen wahrnimmt, ihren ganz persönlichen Kampf gegen „die da oben“. Gesellschaftskritik im Krimi ist im Ergebnis häufig allenfalls gut gemeint, hier ist sie – angelegt im Drehbuch von Florian Oeller („Die Getriebenen“) – dramaturgisch wie krimitechnisch außergewöhnlich gut gelungen. So wird die biografische Vorgeschichte dieser Wendeverliererin in der zweiten Generation auf extrem konzentrierte Weise nachgereicht: in einem kunstvoll gedrechselten 30-Sekunden-Monolog von Katrin König in einer höchst emotionalen Waffe-gegen-Waffe-Situation. In dieser Mittdreißigerin lebt ihre Familiengeschichte weiter. Luise Heyer spielt dieses Häuflein Elend als psychophysisches Gesamtkunstwerk – der Körper ohne jede Energie, apathisch, tieftraurig und bemitleidenswert. Ihre Sabine hat die ganze Ungerechtigkeit aufgesaugt, in jeder Pore ihrer Haut steckt die Demütigung der letzten Jahre. Zusammen mit der augenblicklichen Wut bricht sie sich explosionsartig Bahn. Das erkennt auch König: kein Amoklauf, sondern Tötung(en) im Affekt. Eine Jetzt-reicht’s-Tat, jedenfalls zunächst. Und so ist dann auch das Finale nicht im Stil eines Actionthrillers gestaltet, vielmehr bedient der Showdown – mit entsprechenden Dialogen unterlegt – den gesellschaftskritischen Impetus des Films.
Ansonsten werden wenig Worte gemacht im „Polizeiruf 110 – Sabine“. Sehen und Verstehen ist das ästhetische Prinzip des Films. Die Exposition kommt mit wenig Text aus in jenen Bildern, die die soziale Situation der Titelfigur skizzieren, und in den Solo-Szenen sieht man die Verzweiflung; zu hören ist allenfalls das Geschrei der Nachbarn. Auch König und Bukow, sonst nie um laut- und meinungsstarke Dialoge verlegen, agieren eher dezent und halten sich auch verbal zurück. Dagegen setzt Schaller filmisch auf den gewohnten Rostocker Realismus mit viel Handkamera und eher düsteren Bildern. Alltagsnah und erzählend zugleich ist auch das Szenenbild: Bei den Kommissaren herrscht beziehungstechnisch wenig Klarheit, noch größer ist die Konfusion bei der Episoden-Hauptfigur. Da wundert es nicht, dass es in der Wohnung von Bukow, der ja gerade erst seinen Vater verloren hat, ähnlich chaotisch aussieht wie bei Brenner. Wie immer eine Klasse für sich sind Anneke Kim Sarnau und Charly Hübner. Die leiseren Beziehungstöne stehen ihnen nicht weniger gut als die existentiellen Notlagen. Auch wenn König noch nicht weiß, was das werden soll mit ihrem Kollegen, so hat sie sich doch gefangen, und Ex-Straßenköter Bukow ist ja bereits seit längerem raus aus seiner handfesten Lebenskrise. Schön, wie die beiden abhängen bei der kleinen Trauerfeier, wie sie den Ton-Steine-Scherben-Song „Halt dich an deiner Liebe fest“ gemeinsam grölen. Und dass Blicke mehr sagen als Worte, beweist dann auch die anrührende Schlussszene am Meer.