Eine Nacht, ein Kommissar, ein Toter, drei Pfleger & eine demente Zeugin
„Da war alles voller Blut, und der Mann war tot“. Eine verwirrt wirkende alte Dame will einen Mord gesehen haben. Aber was kann Hanns von Meuffels (Matthias Brandt) jener Elisabeth Strauß (Elisabeth Schwarz) glauben? Diese Frau, die eines Abends im Morgenmantel vor seinem Polizeirevier steht, lebt in einem Seniorenheim und leidet unter vaskulärer Demenz. Tatsächlich ist am Abend ein Bewohner verstorben – und die Begleitumstände sind seltsam. Es wurde weder ein Totenschein ausgestellt noch überhaupt ein Arzt gerufen. Auch gibt es an der Stelle, an der jener Herr Urban umgefallen sei, sich den Kopf angeschlagen habe und nach Berichten der Pfleger sofort tot war, verdächtig hohe Blutspritzer an der Wand. Dann aber stellt sich heraus, dass von den drei für diese Nachtdienst eingeteilten Pflegern, Tscharlie (Florian Karlheim), Marija (Marina Galic) und Chef Kroll (Philipp Moog), keiner den tödlichen Sturz gesehen hat. Auch die Kollegen von der Spusi und aus der Pathologie vermuten, dass der Mann gewaltsam zu Tode kam. Die genaue Auswertung der Untersuchungsergebnisse braucht aber ein paar Tage. So viel Zeit hat von Meuffels nicht. Er weiß: Eine Überführung des möglichen Täters kann nur in dieser Nacht stattfinden. Der Kommissar ist ganz auf sich allein gestellt. Der eigentlich zuständige Kollege verweist auf den morgigen Tag, das Pflegepersonal zeigt sich wenig kooperativ und die Bewohner schlafen oder verlangen nach Pflege. Allenfalls mit dem als Querulant verschrienen Claus Grübner (Ernst Jacobi) lassen sich ein paar vernünftige Worte wechseln – und Frau Strauß ist auch wieder ganz munter.
Foto: BR / Hendrik Heiden
Der passende (Einzelgänger-)Fall für den besten deutschen Kommissar
Gibt es außer Matthias Brandts Hanns von Meuffels noch einen anderen deutschen Fernsehkommissar, den man eine Nacht lang in einem Altenheim ermitteln lassen könnte? Gibt es noch einen anderen, der so wenig wert auf Freizeit legt, der sich so penetrant verbeißen kann in einen Fall und der sich mit einer solchen Engelsgeduld einer dementen Frau zuwenden würde? Wer wäre noch in der Lage, hinter die tragikomische Fassade einer Krankheit zu blicken, die Stimmungsschwankungen richtig einzuordnen, sie also nicht nur als Indiz für eine allgemeine Unzurechnungsfähigkeit zu erkennen? Welchem Ermittler könnte man ein „Kommen Sie, Gnädigste“ abnehmen und welcher kriminalisierende Schauspieler würde das ähnlich charmant und überzeugend rüberbringen wie Matthias Brandt? Und welcher Kommissar könnte – seinen Zorn mit Ironie kurzschließend – glaubhaft einen Satz sagen wie „Lassen Sie Ihre Leute immer allein beim Sterben?“ Einige Punkte dieses Anforderungsprofils für den „Polizeiruf 110 – Nachtdienst“, aber längst nicht alle, könnten vielleicht Axel Milberg, Ulrich Tukur, Harald Krassnitzer und im ZDF Heino Ferch in „Spuren des Bösen“ abdecken, und den „Frankfurtern“ Koch & Broich oder den Berlinern Becker & Waschke ist zwar einiges zuzutrauen, aber solche Einzelgänger-Krimis sind für sie keine Option. Spannende Geschichten zu erzählen ist das eine, aber darüberhinaus die narrativen „Bausteine“ optimal auszuwählen und zu kombinieren, also die bestmöglichen Fälle für einen Ermittler zu finden – das ist die hohe Kunst des episodischen Erzählens einer Krimi-Reihe. Kaum ein Kommissar besitzt so klare Konturen wie der preußische Adelsspross, der in und um München seinen Dienst tut. Keiner passt so gut in diese Geschichte vom Moralisten, der eine Nachtschicht schiebt. Es ist ein optimaler Fall für den – auch gemessen am Output (dies ist der 13. Film in sechs Jahren für Hanns von Meuffels) – besten Kommissar mit den nachhaltigsten Geschichten. Struktur des Krimis und Wesen des Ermittlers passen und finden zueinander.
Haben die Pfleger nur viel zu tun oder vor allem etwas zu verbergen?
Reduktion und Konzentration sind seit jeher die wesentlichen Bestandteile der Brandtschen „Polizeirufe“ des Bayerischen Rundfunks. Die Einheit von Zeit, Raum und Handlung mögen sich die Autorinnen Ariela Bogenberger und Astrid Ströher von der Bühne abgeguckt haben, mit Theater aber hat dieser „Nachdienst“ nichts zu tun. Allenfalls im übertragenen Sinne führen hier die Alten und Kranken, abgeschieden von der Welt da draußen, ihr eigenes Stück auf: „Es interessiert keinem, wie es euch hier geht“, schimpft Pfleger Tscharlie in Richtung des Heim-Revoluzzers, „Ihr seid überflüssig, Ihr seid unsichtbar.“ In erster Linie aber ermöglicht diese Kammerspiel-Methode eine wirkungsvolle Engführung von Krimi und gesellschaftlich relevantem Drama. Während der Kommissar ermittelt, wird man als Zuschauer gleichzeitig Zeuge des Pflegenotstands: Das Personal ist stets bei der Arbeit und so erfolgen die Befragungen quasi im Vorbeigehen. Und ganz besonders gegen Ende der Nacht schellt es ständig aus irgendeinem Zimmer. Dass sich die Pfleger so rar machen, könnte aber auch bedeuten: Sie haben etwas zu verbergen. Ähnlich wie dem Pflegealltag bei der Arbeit, so schaut man hier auch einer Krankheit beim So-Sein zu und muss die Demenz als eine tragische (für den Unbeteiligten tragikomische) Kommunikation verstehen, die vom Kranken bestimmt wird: Ihre Logik wird zur Richtschnur der Interaktion; der „Normale“ kann nur versuchen zu verstehen und entsprechend zu reagieren. Auch im Rahmen eines Films ist ein dementkranker Charakter unberechenbar, seine Simmungsschwankungen, von Sanftmut („mein Lieber“) über Wut („verdammte, verfickte Scheiße“) zu offener Aggressivität („Häng diese Scheißbilder in deinem Zimmer auf“), sind immer für eine Überraschung gut. Elisabeth Schwarz’ Spielchen mit der Semantik waren schon in dem ZDF-Krimi „Schwarzach 23 und die Hand des Todes“ – in diesem Fall war es ein Falschspiel mit der Demenz – ein Meilenstein ambivalenter Fernsehkomik. In der Rolle der Elisabeth Strauß zielt Schwarzens Spiel vor allem auf das Wechselbad der Gefühle ab, das diese Krankheit für die Angehörigen bedeutet.
Foto: BR / Hendrik Heiden
Ein gesellschaftliches Dilemma wird zu einem Krimi-Drama zugespitzt
Die Schlussviertelstunde mutet den Zuschauern einiges zu. Weniger direkt im Bild (mit Ausnahme einiger Video-im-Film-Momente), sondern zwischen den Bildern und im eigenen Kopf findet eine Katastrophe statt. „Nachtdienst“ kann sich diesen Schluss „leisten“, denn der von Rainer Kaufmann klar strukturierte und ohne visuellen Firlefanz, in matten Farben inszenierte Film ist mehr als ein Krimi, er ist gleichzeitig ein sensibles Drama. Mag die Gewalt auch ein krimineller Akt sein, so wird sie vor allem vom gesellschaftlichen Diskurs und von einem persönlichen Schicksal motiviert. Das Drama nutzt quasi die Möglichkeiten des Krimis, um den Finger noch tiefer in die Wunde zu legen. Die gesellschaftliche Provokation, die in der Handlung zum Tragen kommt, soll am Ende auch auf den Zuschauer überspringen. Hanns von Meuffels nimmt diese zehnstündige Nachtschicht emotional entsprechend mit. Zwischenzeitlich sieht er sich im Traum selbst als Insasse durch die ungemütlich kalten Heimflure wandeln. Und auch am Ende bleibt er ganz Mensch – und hält eine Totenwache.