Trostlos geht es zu in einer Münchner JVA. Besonders in der Jugendstrafanstalt. Hier sitzt ein junger Mann ein, der einen Gleichaltrigen ohne ersichtlichen Grund auf einer Rolltreppe hinterrücks erstochen hat. Verhörspezialist Hanns von Meuffels soll „diese Drecksau, diesen Teufel“ zum Reden bringen. Beim Verhörtermin lernt er Karen Wagner kennen, die Leiterin der JVA-Jugendabteilung. Der graue Vollzugsalltag scheint auf sie abgefärbt zu haben. Der Kommissar ist trotzdem angetan. Auch er versteckt sich ja nur allzu gern hinter seinen Fällen. Zwei in Gefühlsdingen ziemlich Unerfahrene, zwei Seelenverwandte, scheinen sich da zu finden. Doch der Dreck, der beide tagtäglich bei der Arbeit umgibt – ein Toter, eine Selbstmordserie – schiebt sich bald wieder in den Vordergrund. Wie soll Liebe bestehen in einem solchen Umfeld? Oder ist vielleicht sogar einer der zwei Liebenden vom Bösen infiziert?
Foto: BR / Erika Hauri
Hanns von Meuffels aus der Reserve zu locken, scheint ein Ding der Unmöglichkeit. Führten den Kommissar des Münchner „Polizeiruf 110“ seine bisherigen sechs Fälle auch in soziale und emotionale Grenzbereiche – so bewahrte der ermittelnde preußische Adelsspross stets Haltung, was bei ihm viel mit Zurück-Haltung und Respekt zu tun hat. Autor-Regisseur Alexander Adolph macht die klar konturierte, ihren Prinzipien treue Figur, ein Profi in psychologischer Polizeiarbeit, nun in der Folge „Morgengrauen“ durchlässiger für eine breitere Palette an Gefühlen. So wie sich Hanns von Meuffels dieser Frau öffnet, so zeigt er auch dem Zuschauer plötzlich neue Seiten von sich. Dem Schauspieler Matthias Brandt kam diese Charakter-Erweiterung, „dieses andere Element der Emotionalität und des Nicht-mehr-weiter-Wissens“, sehr zupass. Auf die Dauer wäre die Figur sonst für ihn „zu hermetisch“, sagt er im BR-Interview. Aber auch für sein Spiel hat die Entdeckung von Gefühl und Liebe, inklusive des Liebesleidens, sehenswerte Konsequenzen. Die Bandbreite der geforderten Stimmungslagen spannt sich von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt. Der einsam und melancholisch in der Welt Herumwandernde beginnt plötzlich zu singen, zu tänzeln oder unverschämt zu feixen. Der konzentrierte Charme von Brandts bisherigen Auftritten als blaublütiger Kommissar weicht in „Morgengrauen“ einem facettenreicheren Bild vom Menschsein. Zwar bleibt er der „Herr von und zu“, ein bisschen abgehoben, ein bisschen arrogant, doch je mehr die Tragik der Liebe ihren Tribut zollt, umso mehr begibt er sich in die Niederungen der Verzweiflung. Ausgerechnet vom würstelhaften LKA-Kotzbrocken Oberpriller, der onanierend seinem trostlosen Dasein ins Gesicht blickt, muss sich „der Herr Baron“ am Ende helfen lassen. Kann es eine größere Schmach für den Stil-Ästheten geben?
Foto: BR / Erika Hauri
„Morgengrauen“ lebt von seinen Charakteren, vier an der Zahl, mit sehr speziellen Formen der Kommunikation. Da ist der verliebte Kommissar, Oberpriller (Andreas Lust), der ein handfestes Gewaltproblem hat, Max Steiner (Axel Milberg), ein guter Schulfreund, der dem Kommissar in der JVA zufällig über den Weg läuft, und von Meuffels’ Objekt des Begehrens, jene Karen Wagner, von der man nicht so recht weiß, ob ihr nur die Übung in Sachen Leben und Liebe fehlt oder ob sich nicht vielleicht etwas anderes hinter ihrer fahrigen Art verbirgt. Das Spiel von Sandra Hüller ist – wie so oft – ein Ereignis: ohne zu viel Psychologie, offen, mehrdeutig, verletzlich, fast krankhaft ehrlich gibt sie ihre Figur. Sie bleibt auch in einer ihrer ganz wenigen Fernsehrollen die Expertin für das Aussprechen von Gedankenströmen, für Charaktere, denen es schwer fällt, ihrem (Chaos im) Kopf zu entkommen. Kommunikation bis in die kleinste Gefühlsregung – und nicht vordergründige Handlung – sind die Triebkraft von Alexander Adolphs Film. Auch das klassische, kontinuierliche und raumzeitliche Erzählen tritt in diesem außergewöhnlichen „Polizeiruf 110“ zurück zugunsten einer Filmsprache, die – offenbar von den Emotionen der Figuren getrieben – eine extreme Sprunghaftigkeit an den Tag legt. Krimiplot und Romanze verschmelzen hier nicht elegant wie bei Hitchcock, dem Altmeister dieser Mixtur, sondern sie werden eher eruptiv und bruch(stück)haft miteinander kurzgeschlossen. Atmosphäre zieht der Grimme-Preisträger nur selten aus den Abbildern allein, der Poesie kalter Großstadtansichten, sondern sehr viel häufiger aus einer Montage, die in der rüden Unvorhersehbarkeit ihrer harten Schnitte den Bildern geradezu Gewalt antut.
Foto: BR / Erika Hauri
„Wenn man lacht, dann wird man gefühlsmäßig in einen Zustand gebracht, der einem gleichsam dem Weinen näherbringt“, so Alexander Adolph im BR-Interview. Schön gesagt und sehr wahr. „Morgengrauen“ bewegt sich zwischen dem Grauen und der Überzeugung, dass es ein Morgen für die Welt des Herzens, für das Glück geben wird. Dummerweise steht das Happy End im ersten Teil des Films. Auch wenn es gegen Ende kurz richtig spannend wird, ist „Morgengrauen“ eine Reihenkrimi-Variation mit deutlichem Überhang in Richtung Seelendrama. Es ist ein Film über die Einsamkeit der Profis, über die Verzweiflung hinter verschlossenen Türen, über das massenhafte mediale Geflimmer hinter Hochhausfenstern. Es ist ein Film über die Großstadt, obgleich man sie kaum zu Gesicht bekommt. Zellen, enge Flurfluchten, dunkle Räume. Dazu ein Sounddesign, das vom Grauen tönt. Dieser Ausnahme-„Polizeiruf“ kann einem den Glauben an die oft beschworene, aber viel zu selten eingelöste (gesellschaftliche) „Relevanz“ des Fernsehkrimis zurückgeben. (Text-Stand: 25.7.2014)