Keno ist aggressiv, nicht zu bändigen – genau der Umgang, vor dem Eltern ihre Kinder warnen. Verhängnisvoller Weise hat sich Kommissar Bukows Sohn Samuel mit dem schwer erziehbaren Keno angefreundet. Weil die beiden nicht in eine Disco eingelassen werden, werfen sie einen Brandsatz. Die LKA-Beamtin König beobachtet das zufällig und schnappt sich den flüchtenden Samuel. Bukow muss ihn auf der Polizei-Wache abholen, doch das ist erst der Beginn einer Spirale aus Gewalt, Kontrollverlust und Verzweiflung. Keno wird in dem Heim, in dem er untergebracht ist, in ein Zimmer ohne Handy und Internet gesperrt. Als „letzte Chance, den Schalter umzulegen“, sagt Heimleiter Stig. Keno tobt, schafft es irgendwie aus dem Zimmer, zieht mit Samuel los – und erschießt Stig, der den beiden beim Joggen begegnet, mit einer gestohlenen Pistole. Nun sind die Jugendlichen auf der Flucht, aber Keno hat ein Ziel: Er will seinen „Bruder“ Otto „rausholen“, der bei einer Pflegefamilie auf einem Bauernhof in Polen untergebracht ist – einer fremden und ärmlichen Welt. In den ersten Szenen von „Kindeswohl“ sah man Otto beim (gescheiterten) Versuch, sich aufzuhängen.
Harten, düsteren Stoff bietet der „Polizeiruf“ aus Rostock eigentlich immer, das Drama um extrem schwierige Jugendliche und das Geschäft mit ihrer „Inobhutnahme“ gehört aber zu den besonders trostlosen Folgen. Passend zum Fall, fanden die Dreharbeiten im tiefen Winter und in einer verschneiten Landschaft statt. Auch im Verhältnis zwischen König (Anneke Kim Sarnau) und Bukow (Charly Hübner) geht es ziemlich frostig zu: „Das war das letzte Mal, dass Sie sich in mein Leben eingemischt haben“, motzt Bukow König an, nachdem die seinen Sohn Samuel (Jack Owen Berglund) auf der Wache abgeliefert hatte. Die Beiden gehören definitiv zu den spannendsten Ermittlerfiguren im deutschen Fernsehen. Die horizontale Erzählweise in einer Reihe, deren einzelne Folgen im Abstand von mehreren Monaten ausgestrahlt werden, dürfte bisweilen zwar zu einer leichten Überforderung des Publikums führen. Aber es ist schon bemerkenswert, wie vielschichtig und faszinierend zwiespältig die Figuren mittlerweile geworden sind. Und von der Energie im Spiel von Anneke Kim Sarnau und Charly Hübner kann man ohnehin nicht genug kriegen.
Warum die Stimmung zwischen den Kommissaren auf dem Tiefpunkt ist, erklärt sich jedenfalls aus mehreren vergangenen Folgen. In „Angst heiligt die Mittel“ war König beinahe vergewaltigt worden. Sie konnte den Angreifer abwehren, verletzte ihn aber mit einem Schraubenschlüssel weiter, während der bereits wehrlos war. König gestand dies in ihrem Bericht – und fiel damit Bukow in den Rücken, der den wahren Ablauf in seiner Aussage zu ihrem Schutz verschwiegen hatte. Das Ergebnis: Zu Beginn der Folge „Für Janina“ wurde nicht nur König, sondern auch der notorisch klamme Bukow zu einer Geldstrafe verurteilt. Anschließend schoben sie einem bereits freigesprochenen Vergewaltiger und Mörder ein manipuliertes Beweisstück unter, um ihn doch noch hinter Gitter zu bringen. Aus Polizisten wurden Gesetzesbrecher, aber die treibende Kraft war nicht Bukow, der sich mühsam aus dem Milieu seines kleinkriminellen Vaters herausgearbeitet hatte, sondern die bis dahin so korrekte König. Im neuen Fall sucht sie auf einem Datingportal nach Bekanntschaften. Gab es zeitweise eine freundschaftliche Annäherung zwischen den Ermittlern, sogar einen Flirt und fast die Aussicht auf mehr, so scheinen Bukow und König nun wieder wie zwei Magnete zu sein, deren Pole sich gegenseitig abstoßen.
Dass Bukow in „Kindeswohl“ persönlich betroffen ist, treibt die Sache auf die Spitze. König soll Bukow, der sich offiziell aus den Ermittlungen raushalten muss, aber natürlich trotzdem mitmischt, unter ihre Fittiche nehmen und „vor sich selbst schützen“, wie es Kommissariats-Chef Röder (Uwe Preuss) formuliert. Bukow steht als besorgter und sich schuldig fühlender Vater gewaltig unter Strom, begleitet König, die durch die vergangenen Ereignisse selbst in ihren Grundfesten erschüttert ist, noch mürrischer als sonst. Gut so, dass nicht auch noch am Beziehungsdrama geschraubt wird: Zwar ist seine Ex-Frau Vivian (Fanny Staffa) mit dem Kollegen Thiesler (Josef Heynert) zusammen, den Bukow täglich auf dem Kommissariat trifft. Aber die Drei haben sich offenbar arrangiert und sind nun in Sorge um Samuel vereint, ohne sich pausenlos gegenseitige Vorwürfe zu machen. Stark auch, dass Anton Pöschel (Andreas Guenther) hier mal nicht so ausgeprägt den peinlichen Macho-Clown geben muss.
Beängstigend intensiv gelingt Junis Marlon die Darstellung des gewalttätigen Teenagers Keno. Dass der (mutmaßlich das erste Mal) einen Menschen kaltblütig erschießt und davon derart unbeeindruckt ist, erscheint natürlich schwer glaubhaft – ebenso wie die unbedingte Treue Samuels nach der ihn so schockierenden Tat. Aber dieses Rätselhafte, Unerklärliche und Unerklärte macht eben auch den Reiz in diesem Krimi aus, der ja kein „Whodunit“ ist, weil wir Zuschauer den Täter kennen. Und woher kommen Kenos Wut und Entschlossenheit? Auch gegenüber seiner Großmutter, die ihn bis zum Alter von sieben Jahren aufgezogen hat, ehe der Junge seinen ersten Raubüberfall beging, zeigt Keno keine Anzeichen von Empathie. Man erfährt noch, dass sein Vater sich nicht kümmert und die Mutter in einer psychiatrischen Anstalt untergebracht ist. Nicht einmal Lesen und Scheiben kann Keno, der die Erwachsenen überfordert, von ihnen aber auch im Stich gelassen wurde. Nun ist er in einer Einrichtung gelandet, die Kinder im Zweifel zu Pflegefamilien im Ausland abschiebt. Das ist lukrativer, weil den Pflegeeltern dort weniger gezahlt werden muss. Und außerdem ist man auf diese Weise lästige Fälle los – mit Wissen und Einwilligung des Jugendamts. Keno gilt als „Systemsprenger“, aber das System selbst ist auch in zweifelhaftem Zustand und mit der wachsenden Zahl von Inobhutnahmen überfordert.
Die Folge „Kindeswohl“ nimmt also eine sozialkritische Wende, problematisiert die Praxis von privaten Organisationen in der Jugendhilfe, doch die Inszenierung bietet zugleich in verschiedenen Details Differenzierung an: Im Jugendamt türmen sich die Akten, pausenlos klingelt das Telefon. Ottos polnischer Pflegevater bemüht sich um Ottos Eingliederung, wenn auch vornehmlich aus finanziellen Gründen. Und in einer anderen Familie fühlt sich der dort lebende, ebenfalls schwer erziehbare Deutsche offenbar durchaus wohl. Etwas holzschnittartig geht es dennoch zu: Erzieherin Valli (Christina Große) bietet den Gegenentwurf zur harten Linie des Heimleiters, erscheint aber in ihrem unerschütterlichen Ansatz, sich immer auf die Seite Kenos zu stellen, auch als naiv und unprofessionell. Das ist doch arg plakativ, zumal somit die einzige Figur, die sich um Zuwendung für den „Systemsprenger“ bemüht, erst einmal wie die Hauptverantwortliche für die Tragödie dasteht. Letztlich scheitern alle an dem Jungen, der wie ein total hoffnungsloser Fall wirkt – eine insgesamt irritierende, zweifelhafte Botschaft … Kenos Charakter gewinnt allerdings im Verlauf des Films zumindest die positive Eigenschaft, dass er zu Otto (Niklas Post) und dem ihm gegenüber gemachten Versprechen steht. Und für die Dramaturgie macht es ohnehin Sinn, dass Keno derart unerschrocken sein Ziel verfolgt. Die Odyssee der Jugendlichen sorgt für durchgängige Spannung, und als Zuschauer hofft man nach all der Kälte und Düsternis auf Tauwetter und ein wenig Licht am Horizont – woraus aber nur bedingt etwas wird. (Text-Stand: 15.3.2019)