Sein siebtes „Polizeiruf“-Heimspiel beginnt der Münchener Regisseur Dominik Graf mit einer kammerspielartigen Einführung in Splitscreen-Optik und mit leicht verstörendem Inhalt: Mia Horschalek (Emma Preisendanz) erzählt ihrem Therapeuten Martin Weibel (Michael Roll) von ihrer neuen Liebe. Sie fühle sich frei bei Lucky, sagt sie, aber alle würden sie dafür hassen. Denn Lucky und Mia drehen Pornos. Mia sagt: Nach der Dunkelheit, die sie in ihrem Leben gespürt habe, sei es nun so, als ob Lucky nur auf sie gewartet hätte. „Als ob er mich sieht und als ob er weiß, dass ich – sorry – benutzt werden will.“ Mia hebt die Stimme, als wäre da ein Fragezeichen am Ende des Satzes. Vielleicht damit dieses Bekenntnis, aus Sorge vor der Reaktion ihres stirnrunzelnden Gegenübers, nicht so schockierend klingt. Die junge Frau und der Therapeut duzen sich, scheinen vertraut miteinander. In wenigen Ausschnitten sieht man noch, wie Mia und Lucky gut gelaunt herumalbern, ehe sie eine harte Sex-Szene drehen.
Foto: BR / Provobis / Heiden
Drei Tage später wird Lucky (Florian Geißelmann) tot in seinem Wohnwagen aufgefunden. Dominik Graf drückt jetzt am Tatort aufs Tempo: viele Schnitte, wechselnde Perspektiven, Nahaufnahmen von Details, hastige Dialoge. Die Polizei entdeckt verschiedene Drogen, eine abgebrochene Nadel im Bein des mit Handschellen gefesselten Opfers und „Antragungen“ unter den Fingernägeln, die möglicher Weise die DNA des Täters oder der Täterin enthalten. Das vorzügliche Drehbuch von Tobias Kniebe bringt es zwar fertig, eine spezielle Norm zum Umgang mit DNA-Proben in einen packenden Krimistoff zu verwandeln. Dennoch dürfte es vielen schwer fallen nachzuvollziehen, warum der DNA-Treffer, der auf einen nahen Verwandten von Mia als Täter verweist, nicht berücksichtigt werden darf. Rechtsmedizinerin Franca Ambacher (Jule Gartzke) gerät sogar geradezu in Panik, und Kommissarin Cris Blohm (Johanna Wokalek) lässt sich inoffiziell von einem Anwalt beraten, wie sie das Recht überlisten und den Täter vielleicht doch überführen kann.
Den realen Hintergrund lieferte eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 20. Dezember 2012. Demnach erlaube die Strafprozessordnung (StPO) „den Abgleich von DNA-Identifizierungsmustern nur, soweit dies zur Feststellung erforderlich ist, ob das Spurenmaterial von einem der Teilnehmer der Reihenuntersuchung stammt“ (Az. 3 StR 117/12). In dem vor dem BGH verhandelten Vergewaltigungs-Fall hatten DNA-Proben des Vaters und des Onkels auf die Spur des Täters geführt. Diese verwandtschaftliche Beziehung hätte jedoch wegen der StPO-Norm „nicht als verdachtbegründend gegen den Angeklagten verwendet werden dürfen“. Kurioser Weise stufte der BGH es also als rechtswidrig ein, dass die Ermittler diesen Abgleich der DNA-Muster vornahmen, doch wegen einer bis dahin unklaren Rechtslage und in Abwägung mit dem Interesse an einer effektiven Strafverfolgung habe dies ein Verwertungsverbot nicht begründen können. Die Verurteilung des Täters hatte also Bestand, und auch eine Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht scheiterte. Seither ist die Rechtslage jedoch geklärt: Polizei und Strafverfolgungsbehörden dürfen Muster, die in einer DNA-Reihenuntersuchung auf einen Verwandten als Täter hinweisen, nicht einfach mit dessen DNA abgleichen. Man muss den Täter-Nachweis auf andere Weise führen. Zum weiteren Verständnis erläutert der von Blohm befragte Anwalt im Film noch, es sei in Deutschland ein hohes Rechtsgut, dass man vor Gericht Angehörige nicht belasten müsse.
Foto: BR / Provobis / Heiden
Abgesehen von den juristischen Spitzfindigkeiten gelingt Kniebe und Graf ein unterhaltsamer Genre-Mix, der unerwartete Wendungen mit sich bringt. Nach dem kammerspielartigen Beginn folgt ein scheinbar herkömmliches Krimidrama, in das Graf jedoch assoziative Bild-Passagen (Kamera: Hendrik A. Kley) einfließen lässt. Zum Beispiel die Episode mit Mia, dem aggressiven Hund und dem tödlich verletzten Vogel. „Jenseits des Rechts“ wirkt zeitweise wie eine Münchener Großstadt-Ballade, in der die scharfen Gegensätze verschiedener Milieus zutage treten. Milieus, die alle, wenn auch auf unterschiedliche Weise, moralisch „anrüchig“ sind. Luckys Wohnwagen steht in einer Art Künstlerkolonie. Obwohl Lucky angeblich eine Managerin hat und die Videos mit Mia im Netz ein großes Publikum finden, sind hier eher Hobbyfilmer aus einer etwas schmuddeligen Subkultur am Werk statt professionelle Darsteller eines gut geölten Porno-Studios. Mia wiederum entstammt einer Familie, die mit fragwürdigen Geschäften reich geworden ist. Aktivisten laufen gerade Sturm gegen die Munich Gold AG ihres Vaters Ralph Horschalek (Martin Rapold), der sich auch mit Waffenhändlern einläßt. „Was für Monster seid ihr eigentlich?“, begehrt Mia auf. Ralph Horschalek wiederum setzt alles daran, die Porno-Videos seiner Tochter zu löschen. Um moralische Bedenken geht es ihm dabei weniger, sondern um die Sorge vor einem Einbruch des Aktienkurses. Während für Mia der Verlust der Kontrolle beim heißen Sex ein Lustgewinn ist, tut ihr Vater alles, um die Kontrolle im kalten Geschäft mit dem Gold zu bewahren. Ob darin eine moralische Botschaft enthalten ist, darüber darf das Publikum selbst entscheiden.
Das Dilemma mit der auf Mias Vater als möglichen Täter verweisenden DNA-Probe lassen Kniebe und Graf schließlich in ein spannendes Krimi-Solo mit komödiantischen Zügen münden, bei der Kommissarin Blohm nach dem Motto „Frechheit siegt“ handelt. Sie nutzt den Trubel der Party zum 16. Geburtstag von Mias Schwester Sasha (Falka Klare), um in die Horschalek-Villa und an eine DNA-Probe von Ralph Horschalek zu gelangen. Nach dem Versteckspiel inmitten einer schnatternden Teenie-Schar ergeben sich einige Überraschungen, wobei die Identität des Täters nicht unbedingt dazu zählt. Die von Johanna Wokalek sympathisch unprätentiös gespielte Cris Blohm, die sich ihre Möbel auf dem Sperrmüll besorgt, beweist auch bei ihrem dritten Einsatz als „Polizeiruf“-Kommissarin, dass man sie keineswegs unterschätzen sollte. Insbesondere wenn sie spürt, „wie ich langsam innerlich ziemlich bockig werde“. (Text-Stand: 30.11.2024)
Foto: BR / Provobis / Heiden