Gestern kam er in Slubice an: Aus dem Off hören wir seine Stimme und sehen gleichzeitig, wovon sie spricht. Der junge Mann erinnert sich auffallend genau. Auch nach den ersten Szenen des Vorspanns, wenn er Kommissar Raczek (Lucas Gregorowicz) am Tatort gegenübersteht. Keine Einbruchspuren an der Tür, laute Musik die ganze Nacht, das verzweifelte Mädchen am nächsten Morgen. Raczek ist genervt. Es ist Sonntag. Er konnte nicht schlafen. In einer blutverschmierten Wohnung liegt ein toter Mann und vor ihm steht ein Besserwisser in eimem Schottenrock ähnlichen Etwas. Was will der? Vincent Ross (André Kaczmarcyk) will nur seinen Job machen. Er kommt frisch von der Polizeischule und wurde Raczek für die Ermittlungsarbeit in Frankfurt an der Oder zugeteilt. Sein Ausweis klärt den Irrtum. Dass ihr erster gemeinsamer Fall ausgerechnet der Suche nach dem Mörder seines Nachbarn gilt, dafür kann er nichts. Das muss sogar Raczek akzeptieren.
Mit dem neuen Assistenten Vincent Ross bereiten die Autoren Anika Wangard und Eoin Moore (auch Regie) dem ersten Transgender-Ermittler in einem Kripo-Team die Bühne. Glücklicherweise verkörpert André Kaczmarcyk diesen Vincent Ross mit großer Selbstverständlichkeit und trägt den Umstand nicht wie ein Ausrufezeichen vor sich her. Im Lauf der Ermittlungen bestimmt nicht Rock oder Hose die Figur. Es ist das sanfte Wesen des Vincent Ross, das die Zusammenarbeit mit dem eher stoisch-herben Raczek prägt. Wangard und Moore, die für die Entwicklung und die Fälle des „Polizeiruf“-Teams Rostock (Charlie Hübner, Anneke Kim Sarnau) in den letzten Jahren viel Lob ernteten, erzählen im ersten neuen Frankfurt/Oder-Fall vom Neueinrichten. Ross besitzt nicht viel mehr als eine alte Matratze, Raczeks Vorgarten gleicht immer noch einem rumpeligen Provisorium. Das nur vage Verankertsein eint die neuen Kollegen. Den Rest bestimmen die Unterschiede zwischen den beiden. Raczek ist schlaflos, geschieden und gefährlich nah an einer Tablettensucht, Ross ein entschleunigter Bewegungskünstler mit abgebrochenem Psychologiestudium und gemischt-geschlechtlichem Kleiderfundus. Wenn Ross dem mental genervten Kollegen die Hand in therapeutischer Absicht auf die Brust drückt, rastet Raczek aus. Er allerdings darf dem hilfsbereiten Kollegen gleich mehrere Male ungestraft die Hand auf die Schulter legen.
Foto: RBB / Rudolf Wernicke
„Uns interessierte in diesem Zusammenhang die aktuelle Gender-Diskussion, in der klassische Rollenbilder hinterfragt werden. Die Frage, wie wir Männlichkeit heute definieren, scheint dabei zentral zu sein: Wann ist ein Mann ein Mann? Tradierte Rollenbilder lösen sich immer mehr auf und werden durch neue ersetzt, besonders bei der jüngeren Generation der 30-Jährigen. Nach unserer Beobachtung wird das Thema Männlichkeit in diesem Kontext bislang in keinem der aktuellen Ermittler-Teams behandelt.“ (RBB-Redakteurin Daria Moheb Zandi)
Neugierig stimmende Feinheiten in der Figurenzeichnung sind im Fall eher weniger zu finden. Hinter dem ermordeten Bastian Grutzke tritt im Verlauf der Ermittlungen eine völlig desolate Familie zutage. Großmutter Hilde (Tatja Seibt) hockt mit Sauerstoffgerät in ihrem Häuschen und drangsaliert die Verwandtschaft. Wer weiß, dass bei der Oma nicht nur ein Haus, sondern auch das Geld von Tante Evis reichem Wessi zu holen ist, der schaut trotzdem bei ihr vorbei. Unter der klebrigen Fliegenfalle überm Esstisch treffen die Kommissare neben Pflegerin Böttcher (Isabel Schosnig) dann auch Versager-Sohn Ulf (Lars Rudolph) und Enkelin Emma (Ada Philine Stappenbeck). Seit dem Mord an ihrem Bruder ist die von Panikanfällen gebeutelte Frau endgültig traumatisiert. Eigentlich todkrank, erweist sich Hilde allen Eindringlingen gegenüber als äußerst wehrhaft. Um das zu unterstreichen, scheut Moore keine Übertreibungen. Mal steht die Oma mit der Flinte im Türrahmen, dann droht sie mit ihrem Elektromobil alle umzunieten, die ihr im Weg stehen. Spätestens jetzt ist klar, dass hier kein typisches Sozialdrama erzählt wird. Statt auf braven Abbildrealismus setzt Moore auf eine geradezu bizarre Kaputtheit, auf abgerockte Locations, auf einen Whodunit im Psycho-Horrorhaus. „Polizeiruf – Hildes Erbe“ schwankt so zwischen einem Krimidrama über eine verarmte Familie und dem Dilemma einer unterbezahlten Pflegerin, die, wie alle aus ihrer Branche, unter Generalverdacht steht, und einer gewollt grob-grellen Familienaufstellung.
Gefilmt eher konventionell, in einem flüssigen Erzählrhythmus, mit kleinen, feinen Ellipsen, baut hingegen die musikalische Untermalung auf Dissonanz. Zu den traurigen Wahrheiten, die die Ermittlung zutage fördert, gesellt sich immer wieder ein Swing-Rhythmus mit Bläsern. Eher Babylon Berlin als Tristesse an der Oder. Das wirkt wahlweise wie ein akustischer Weckruf oder aufregend deplatziert. Vielleicht als Vorausdeutung auf diese vom Wahn-Sinn befallene Familie oder möglicherweise als ein Ausblick auf das, was in Frankfurt an der Oder noch kommen kann. Das Zusammenspiel der beiden Ermittler wird dabei von zentraler Bedeutung bleiben. Das Team Moore/Wangard steht für horizontale Erzählstrukturen hinter den aktuellen Fällen. Es ist davon auszugehen, dass auch Vincent Ross einen wunden Punkt hat. Und dass er, der für seinen Job in die alte Heimat zurückgekehrt ist, alten Bekannten begegnen wird. In dieser Logik gönnt sich dieser „Polizeiruf 110“ zwei Schlussszenen. Die eine beendet bildstark und ohne Worte den Fall, die andere konzentriert sich noch einmal auf das neue Gespann. „Schön, dass du da bist“, sagt Raczek zu Ross und bereut es Sekunden später. Die Grenze zwischen beiden ist am Ende klar markiert. (Text-Stand: 21.12.2021)
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