Ein DDR-Fall schweißt das zerstrittene Team wieder zusammen – vorübergehend
Ein Mord aus dem Jahr 1988 mischt die Rostocker Kripo mächtig auf. Vor allem Team-Chef Röder (Uwe Preuss) hat schwer zu knabbern an einem Fall, den er Anfang der 1990er Jahre übernahm und ungelöst zu den Akten legen musste. Es ist Ursula Stöcker (Hildegard Schmahl), die Mutter, deren Tochter Janina noch zu DDR-Zeiten vergewaltigt und ermordet wurde, die die Wiederaufnahme ins Rollen bringt. Immer mal wieder erinnert die ehemalige Volkspolizistin Röder daran, dass sie noch immer nicht weiß, wer ihre Tochter auf dem Gewissen hat. Jetzt ist ihr Mann gestorben; sie möchte nicht abtreten, ohne den Namen des Mörders zu kennen. Wie immer will Röder sie vertrösten, doch da hat er die Rechnung ohne seine Mitarbeiter gemacht. „Ich akzeptiere keine unaufgeklärten Mordfälle“, ereifert sich die LKA-Kollegin Katrin König (Anneke Kim Sarnau) und reißt den Fall an sich. Als sie mit ihren ersten Recherchen widerlegen kann, dass ein russischer Matrose – wie zuletzt vermutet – der Täter gewesen sein muss, bleibt Röder nichts anderes übrig, als die Ermittlungen im Fall Janina wiederaufzunehmen. Der Verdacht liegt nahe, dass ein Rostocker die Tat begangen hat. Pöschel (Andreas Guenther) und Thiesler (Josef Heynert) legen sich mächtig ins Zeug, und als Bukow (Charly Hübner) feststellt, dass Janina mit Anett, seinem sexy-Jugendschwarm, befreundet war, ist auch er bald Feuer und Flamme für den Fall. Zu Katrin König geht er allerdings deutlich auf Distanz, nachdem ihn seine Loyalität – sprich: seine Falschaussage – fast 9000 Euro kostet, und er von seiner Kollegin nicht mal eine Entschuldigung bekommt.
„Wenn Bukow, sei es aus Liebe oder Freundschaft, gegen viele Vorschriften verstoßen hat, um Katrin König aus der Patsche zu helfen, und sie das nicht nur nicht annimmt, sondern auch noch gegen Bukow verwendet, ist das schon eine Art Misstrauensbeweis … Für die Entwicklung zwischen den beiden Ermittlerfiguren finde ich diesen Konflikt sehr schön. Denn wenn man über Jahre immer nur darauf wartet, ob sie sich nun küssen oder nicht, dann wird es doch irgendwann ein bisschen langweilig.“ (Charly Hübner)
König & Bukow: weit voneinander entfernt & sich doch irgendwie immer ähnlicher
„Für Janina“, der 18. „Polizeiruf 110“ aus Rostock, ist ein in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerter Krimi für diesen Reihen-Ableger, dessen Filme mit ihrem physischen Realismus, der Drama-Spannung zwischen den Ermittlern und einem cleveren moderat konsekutiven Erzählen ohnehin fast immer etwas Besonderes sind. Die beiden Hauptermittler, König und Bukow, sind plötzlich wieder so weit voneinander entfernt wie zu Beginn der Reihe 2010/11. Nachdem König nach einem Vergewaltigungsversuch in „Angst heiligt die Mittel“, Film Nr. 15, den Täter mit einem Schraubenschlüssel verletzt hat, macht Bukow für sie eine Falschaussage, die als solche erkannt und verfolgt wird, als König wenig später ein Geständnis ablegt. Sie will sauber bleiben, reißt damit aber den Kollegen mit rein in den Schlamassel. Zu Beginn der neuen Episode bekommen beide eine – fast identische – Geldstrafe aufgebrummt, und Bukow ist mehr als angefressen. So gereizt auch die Stimmung zwischen den beiden zunächst ist, durch den Fall nähern sie sich vorübergehend ein Stück weit wieder an, bevor auf der Zielgeraden die Konflikte zwischen ihnen erneut zu eskalieren drohen und am Ende alle beide Flecken auf ihrer weißen Bullenweste haben: Bukow viele graue, König ein paar dunkelschwarze. Das Team insgesamt aber rückt deutlich zusammen. Alle ziehen am selben Strang, Pöschel und Thiesler, die zuletzt dramaturgisch nicht viel mehr als Wasserträgerfunktion erfüllen mussten, werden stärker in die Handlung eingebunden. Pöschel, sonst häufig die coole Sau, verguckt sich über die Fotos („tolle Figur“) ein bisschen in die junge, hübsche Janina und lässt quasi diese „Zuneigung“ an der verzweifelten Mutter aus, indem er sich immer wieder rührend um sie kümmert. Und Chef Röder rückt zum ersten Mal ins emotionale Zentrum einer Geschichte; nicht zuletzt auch wegen eines Darstellers wie Uwe Preuss („Im Angesicht des Verbrechens“) eine überfällige Entscheidung.
„Die Figuren sind sehr emotional in diesen Fall involviert und können mit ihrer eigenen Ohnmacht, die sie hier erfahren, kaum umgehen. Wir wollten schon länger einen Fall für das ganze Ensemble machen, eine Folge, in der es sehr stark um diese Gruppe im Kommissariat geht und in der der Fall zwischen den Figuren des Ermittlerteams ausgekämpft wird.“ (Anika Wangard, Drehbuchautorin)
Macht der §362 der StPO den Kommissaren einen Strich durch die Rechnung?
Noch ungewöhnlicher aber ist der Fall selber: ein Mord aus DDR-Zeiten, der mit alten Schwarzweißfotos, mit Popkultur-Reminiszenzen (das legendäre Bruce-Springsteen-Konzert 1988 in Ost-Berlin) und analogen nostalgischen Vintage-Beweismitteln wie Audiocassetten und einer farbenfreudigen und aussetzerreichen Videocassette rekonstruiert wird. Die Beweis-Aufnahme der Volkspolizei war fehlerhaft, drei Jahre später konnte Röder damit nicht mehr viel anfangen: „totale Sackgasse“, sagt er heute, insgeheim aber befürchtet er sicherlich, damals etwas übersehen zu haben. 2018 kommen nun die neuesten DNA-Methoden ins Spiel – und mit ihnen gerät ein Mann als möglicher Täter in den Fokus, der Anfang der 1990er Jahre schon für ein Jahr als mutmaßlicher Mörder im Gefängnis saß, allerdings nach Anfechtung des polizeilichen Gutachtens endgültig freigesprochen wurde. Sollte dieser Guido Wachs (Peter Trabner) tatsächlich Janinas Mörder sein, würde allerdings der §362 der Strafprozessordnung (StPO) in Kraft treten, wonach niemand ein zweites Mal wegen desselben Deliktes vor Gericht gestellt werden darf. Dass er eine Speichelprobe verweigert, könnte tatsächlich für seine Schuld sprechen. Doch vielleicht ist er es auch nur leid, er, der mittlerweile ein zufriedenes bürgerliches Leben führt, mit Frau und drei Kindern, immer wieder mit der alten Geschichte in Verbindung gebracht zu werden. Prompt beschwert er sich bei Röder über die Ermittlungs-Methoden seiner Kollegen. Und prompt machen diese weiter mit ihrer psychologischen Kriegsführung. Vor allem Bukow versucht es mit suggestiver Beeinflussung, während König den konfrontativen Weg sucht; ihr sind alle Mittel recht, den Mann als Täter zu überführen. Anhand der Hinweise zum Tathergang schließt die Profilerin auf einen „wütenden Vergeltungsvergewaltiger“, also keinen klassischen Serientäter. Dennoch wäre es durchaus denkbar, dass der Mörder von Janina doch noch weitere Morde begangen haben könnte.
„Mir ist es generell wichtig, dass man die Figuren in eine offene Dynamik führt. Man soll nicht das Gefühl haben, dass etwas stehenbleibt oder heilig ist, sondern es gibt immer wieder Brüche oder Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Entsprechend ist König auch keineswegs immer die Saubere und Bukow der Unkorrekte.“ (Eoin Moore, Buch & Regie)
Die Psychologie der beiden Hauptermittler rückt ins Zentrum der Geschichte
„Für Janina“, unprätentiös realistisch und stets mit kongenialem Blick auf die Geschichte und ihre Charaktere inszeniert, verzichtet auf Krimi-Spannung & Action-Thrill, Genre-Strategien, die im „Polizeiruf“ aus Rostock einen gewissen Stellenwert besitzen. Stattdessen läuft die Psychologie der Hauptermittler nicht wie gewohnt neben der Krimihandlung her, sondern steht im Zentrum der Geschichte – und sie geht über den Stress, den Bukow und König miteinander haben, hinaus und spiegelt sich auch im radikalen Umgang mit dem alten Fall, dessen Ungerechtigkeit die Beteiligten schmerzt, allen voran die Mutter der Ermordeten, die Hildegard Schmahl mitleiderregend und doch sehr vielschichtig verkörpert. Allen Ermittlern ist dieser unaufgeklärte Mordfall wichtig, aber die bevorzugten Überführungsmethoden können unterschiedlicher nicht sein. Und noch ein weiterer Konflikt baut sich zwischen König und Bukow auf. Der Straßenköter steckt in Geldnöten. Und sein Vater hat da so eine Idee… Die Kollegin kriegt es raus und kann das nicht gutheißen. Aber hat sie das Recht, sich als Moralapostel aufzuschwingen? Am Ende hat jeder den anderen mehr denn je in der Hand. „Jetzt ist aus ihrer Sicht alles möglich“, glaubt Sarnau. Es bleibt also spannend zwischen den beiden – und der NDR-„Polizeiruf 110“ eine der aufregendsten deutschen Krimi-Reihen.