Polizeiruf 110 – Endstation

Claudia Michelsen, Matthias Matschke, Rogall, Tiefenbacher. Von Eltern und Kindern

Foto: MDR / Christine Schroeder
Foto Rainer Tittelbach

Nach fünf Einsätzen bekommt Claudia Michelsen im Magdeburger „Polizeiruf 110“ einen neuen Kollegen: Matthias Matschke. „Endstation“ ist ein guter Einstand für ihn, besticht aber auch durch eine starke Geschichte, in der Michelsen noch besser als in der Auftaktfolge „Der verlorene Sohn“ die Register ihres Könnens ziehen kann. Der Sohn der Kommissarin ist zurück. Eine Steilvorlage für den Fall, in dem es um eine sechs- bzw. fünfköpfige Familie mit drei Pflegekindern geht. Der Film erzählt davon, dass sich die Hoffnungen der Eltern nur selten mit den Sehnsüchten der Kinder decken. Ein präzises Buch, das nahtlos vom Krimi zum Drama gleitet, dazu ein schmutziger Realismus auf der Bildebene. Alles sehr stimmig!

Irgendwie haben sich das alle ganz anders vorgestellt
Wenn die Kinder nicht in das Bild passen, das Eltern vom Leben haben, wenn sie unter Familie etwas ganz anderes verstehen – dann gibt es ratlose Gesichter. „Ich hab’ mir das alles ganz anders vorgestellt“, beklagt Lara Schilchow (Paula Dombrowski) die aussichtslose Situation, in der ihre Familie steckt. Sie und ihr Mann Hanno (Ronald Kukulies) haben neben ihrer Tochter Bella (Nina Fautz) noch drei Pflegekinder aufgenommen: den renitenten Sascha (Nino Böhlau), die geistig zurückgebliebene Nadine (Luzie Ahrens) und Saschas jüngeren Bruder Marko. Der bricht eines Morgens auf der Straße tot zusammen; er ist regelrecht zu Tode geprügelt worden. Dass er sich nicht gewehrt hat, könnte dafür sprechen, dass sein Mörder jemand aus seiner Pflegefamilie ist. Aber auch ein anderes Tötungsszenario ist denkbar: Der Junge trug eine wertvolle Uhr bei sich, die bei einem Raubüberfall mit Todesfolge zum Diebesgut gehörte, und gefunden wurde Marko nicht weit vom Polizeipräsidium. Wollte er vielleicht „auspacken“? Brasch (Claudia Michelsen) und ihr neuer Kollege Köhler (Matthias Matschke) ermitteln als möglichen Hehler einen Mann (Rolf-Peter Kahl), der mit der leiblichen Mutter von Sascha und Marko (Julischka Eichel) befreundet ist. Sie ist völlig von der Rolle, ein Junkie. Auch sie hat Momente, in denen sie sich alles ganz anders vorstellt. Der Fall wirft auch Kommissarin Brasch auf ihre eigene Lebensgeschichte zurück. Eine Geschichte, die andauert: Ihr Sohn (Vincent Redetzki) ist gerade aus dem Knast entlassen worden – genau so einer, der seinen eigenen Kopf hat. Und auch der junge Kollege Mautz (Steve Windolf) hat sich den Bullenjob anders vorgestellt, will nicht noch kaputter enden als Köhlers Vorgänger.

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Für die Rollen genauso wie für die Schauspieler gilt: Ein Paar mit einem Riesen-Potenzial! Claudia Michelsen als Doreen Brasch und Matthias Matschke als Dirk Köhler

Nach Helen Dorn gibt nun Doreen Brasch die Domina
Nach fünf Einsätzen bekommt Claudia Michelsen im Magdeburger „Polizeiruf 110“ einen neuen Kollegen: Matthias Matschke hat beim BKA in Düsseldorf die Dienstmarke abgegeben und, was seine Rollen angeht – Georgi in der ZDF-Reihe „Helen Dorn“ und jetzt Dirk Köhler an Doreen Braschs Seite – so ist er vom Regen in die Traufe gekommen. Als freundlicher Gemeinplatzverwalter schneit er mittenrein in den neuen Fall. „Endstation“ heißt der Film. Ein vielversprechender Einstand. Dass Köhler mit seiner netten Art die Kollegin eher auf die Palme bringt, als sie zu gewinnen, bekommt er durchaus mit, ermittelt dennoch unverdrossen weiter – bis ihm der Kragen platzt und Braschs Motorradhelm aus Versehen in seinem Gesicht landet. Beide sind etwas angespannt, deutlich genervt („Können Sie einfach mal die Klappe halten?“) oder auch schon mal ironisch. Die Spielchen haben erst ein Ende als der Neue angeschossen wird. Das erweicht selbst eine Brasch – und so scheint für die Zukunft alles geritzt. Dass diese kaum merkliche Annäherung, die dramaturgisch nur eine Lösung kennen kann (die zwei müssen letzendlich zusammenfinden), nicht so aussieht, als ob man dieses Motiv schon gefühlte 99 Mal in Krimis gesehen hat (was tatsächlich aber der Fall ist), das ist sicher ein Verdienst von Drehbuchautor Stefan Rogall („Polizeiruf 110 – Kleine Frau“), der es Köhler immer wieder ein bisschen anders probieren lässt: gut gelaunt, jovial, es gut meinend, leicht zornig, ironisch oder eine Türe eintretend. Wer Brasch schon ein bisschen kennt, spürt außerdem, dass ihre Reaktion keine bloße Erzählkonvention ist, sondern dass sie für diese Schimanski-like Frau mit der schweren Maschine angemessen ist. Und dann sind da noch diese ganz feinen Nuancen im Spiel, in der Mimik, die diese „Annäherungsphase“ zur Kür statt zur Pflicht machen. Man achte auf den Hauch eines Lächelns bei Michelsen als Reaktion auf das Gerangel um Braschs Helm, der plötzlich an Köhlers Wange klatscht. Auch Matschkes Sinn fürs Komische zeigt sich weniger in der Anlage der Figur als in einzelnen Situationen.

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Wie lange kann die Familie ihre Fassade noch aufrechterhalten? Luzie Ahrens, Ronald Kukulies, Nino Böhlau, Paula Dombrowski und Janina Fautz (v.l.n.r.)

Aus dem Whodunit erwächst ein spannendes Sozialdrama
Die Spannungen zwischen den Ermittlern beleben den Fall. Dieser käme allerdings auch gut ohne die Nicklichkeiten zwischen den Kommissaren aus – denn er ist klar und übersichtlich konstruiert und entwickelt sich zu einem packenden Familiendrama. Die Charaktere bekommen Konturen, die Risse im Familiengebäude der kleinbürgerlichen Wäschereibesitzer werden sichtbar, ohne dass dabei die Wer-war’s-Spannung von vornherein aufgegeben wird. Doch je mehr man als Zuschauer erfährt über jene Familie Schilchow, die stillen Hoffnungen der Erwachsenen und die geheimen Sehnsüchte der Teenager, oder über die leibliche Mutter der beiden Jungs und ihren kritischen Gesundheitszustand, umso mehr schlägt einen dieses Drama in den Bann und umso mehr tritt die Frage, wer die tödlichen Schläge abgegeben hat, in den Hintergrund. Braschs einfühlsame Art der Befragung fällt auf, ihr (Lederkluft-)Panzer fällt ab – und eine sensible, verletzliche Frau wird sichtbar. Die Kommissarin und Mutter kann sich gut hineinversetzen in die jungen wilden Männer. Einen davon hat sie jetzt wieder zuhause. Den aus dem Knast entlassenen „verlorenen Sohn“ wieder ins Spiel zu bringen, ist gut für die Geschichte. Und genauso gut ist es, dass es Rogall mit dieser Figur (und dem Projektionsspiel zwischen dem Fall und Braschs Biographie) nicht übertreibt. Das Gleiche gilt für die Anspielungen auf die „wilde“ Jugend der Kommissarin. Auch sie ist nicht in einem „normalen“ Elternhaus groß geworden. Auch für sie war das Jugendamt zuständig. Auch sie hat rebelliert gegen die Erwachsenen. Mehr erfährt man nicht. Es ist genug, um den Fall mit Psychologie aufzuladen, um den Eigensinn und die Ruppigkeit der Kommissarin ein Stück weit zu erklären und um die Narration zu verdichten. Ein schweres Themenfass wird nicht aufgemacht. Das passt zu Brasch, zu Michelsen, und das passt zur Temperatur des Films.

Soundtrack: Der markante Song zur Halbzeit des Films, „I fall until I float“, ist wie der gesamte Score von Biber Gullatz/Andreas Schäfer komponiert. Anna Gosteli hat den Song, der nicht auf Tonträger veröffentlicht wurde, getextet & gesungen.

Polizeiruf 110 – EndstationFoto: MDR / Christine Schroeder
Mutter & Sohn. Doreen Brasch (Claudia Michelsen), in jungen Jahren selbst eine kleine Rebellin, zieht klare Grenzen. Ihr Sohn Andi (Vincent Redetzki) macht zunächst eine Riesenwelle, nach der Zeit im Knast scheint aber doch die Einsicht zu siegen.

Mit dem MDR als Krimi-Sender darf gerechnet werden
Der „Polizeiruf – Endstation“ ist nach den drei Filmen in rein Magdeburger Mission und der zweiteiligen Kooperation mit Rostock, die Doppelepisode „Wendemanöver“, der sechste und beste Auftritt von Claudia Michelsen als Doreen Brasch. Längst ist die Figur über die feminine Variante von „außen hart, innen zart“ hinaus. Das liegt unter anderem auch daran, dass es in dieser ebenso bitteren wie anrührenden Geschichte um etwas geht, das bedeutsamer ist als die Lösung eines Krimifalls, und dass es bei diesem Drehbuch, auch wirklich etwas (Essentielles) zu spielen gibt. So überzeugend auch der Einstand von Matschke ist (wer hätte auch etwas anderes erwartet?!), man darf ein solches Duo – was Senderredakteure häufig zu gerne tun – bei allen Qualitäten nicht als Selbstläufer begreifen. Die Bücher müssen stark bleiben und das Wesen der Geschichten sollte mit dem der Hauptcharaktere kurzgeschlossen werden, wie es so vorzüglich die „Polizeirufe“ aus München und Rostock vormachen. Und wenn die Umsetzung auch weiterhin so gelungen ist wie im Film „Endstation“, für den Regisseur Matthias Tiefenbacher, Kameramann Hanno Lentz, Szenenbildner Florian Langmaack und Cutter Horst Reiter einen schön schmutzigen Realismus entwickelt haben mit einer filmisch exzellenten, wortlosen Zwischenbilanz-Sequenz nach 45 Minuten, dann ist der lange Jahre fiktional so enttäuschende MDR mit seinen Sonntagskrimis („Tatort“ Weimar, „Tatort“ Dresden, „Polizeiruf 110“ Magdeburg) plötzlich ganz weit vorn. (Text-Stand: 3.5.2016)

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Reihe

MDR

Mit Claudia Michelsen, Matthias Matschke, Steve Windolf, Ronald Kukulies, Paula Dombrowski, Nino Böhlau, Janina Fautz, Luzie Ahrens, Felix Vörtler, Julischka Eichel

Kamera: Hanno Lentz

Szenenbild: Florian Langmaack

Kostüm: Manuela Nierzwicki

Schnitt: Horst Reiter

Musik: Biber Gullatz, Andreas Schäfer

Produktionsfirma: filmpool fiction

Produktion: Iris Kiefer

Drehbuch: Stefan Rogall – nach einer Idee von Michael Gantenberg

Regie: Matthias Tiefenbacher

Quote: 7,58 Mio. Zuschauer (22,4% MA)

EA: 29.05.2016 20:15 Uhr | ARD

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