„Das Bild des Soziopathen, der außerhalb der Gesellschaft lebt, trifft nicht zu.“
„Sexualstraftäter machen lange Pausen, wenn es Ihnen gut geht“, weiß Katrin König (Anneke Kim Sarnau). Überhaupt hat die zur Profilerin ausgebildete LKA-Frau sehr viel beizutragen zum neuen Fall. Ermordet wurden binnen weniger Tage zwei sehr junge Frauen, denen post mortem Körperteile entfernt oder Organe herausgenommen wurden. Auf ähnliche Weise wurden schon einmal drei Frauen und ein Junge vor fünfzehn Jahren in Rostock getötet. Die Morde blieben unaufgeklärt. Die sonst so engagierte Ermittlerin müsste eigentlich in ihrem Element sein, doch dieser Fall zieht sie mächtig runter. Sie wirkt angeschlagen. Die Manipulation von Beweismitteln, das Disziplinarverfahren gegen sie und das dadurch gestörte Verhältnis zu Bukow (Charly Hübner) machen ihr offensichtlich immer noch zu schaffen. Dann der Fall selber: Dieser elende Dreck, mit dem sich die Kommissare tagtäglich herumschlagen müssen, ist schlimm genug – und jetzt scheint in Rostock sogar ein waschechter Serienkiller sein Unwesen zu treiben. Trotz eines Zeugen-Aufrufs gibt es nur wenig brauchbare Hinweise. Ein Anfangsverdacht besteht gegen den Umzugsunternehmer Frank Kern (Simon Schwarz), Vater einer Teenagertochter (Emilia Nöth), nach außen freundlich, besonnen und kooperativ, der wegen Gewalt gegen eine Prostituierte aktenkundig ist. Und dann gerät ein angehender Jurist mit Prüfungsangst und Taxischein, Jan Hansen (Alexander Beyer), unter Verdacht. Der Hobbykünstler hat eine der ermordeten Frauen gemalt. Angezeigt wird er von der eigenen Ehefrau (Angela Winkler). Weder Kern noch Hansen sehen wie Serienmörder aus. Das aber hat nichts zu bedeuten. „Serienmörder sind in vielen Bereichen ähnlich wie wir“, sagt Katrin König bei einer Pressekonferenz. „Das Bild des Soziopathen, der außerhalb der Gesellschaft lebt, unerkannt, trifft nicht zu.“
Foto: NDR / Christine Schroeder
Die zwei Menschen, die den beiden Verdächtigen nahestehen, leben in großer Angst
Der neunzehnte „Polizeiruf 110 – Dunkler Zwilling“ aus Rostock geht dahin, wo’s wehtut. Alle bekommen etwas ab vom Schrecken und vom Schmerz. Die Liebsten der beiden Verdächtigen leben zunehmend in Angst: Was, wenn mein Vater, was, wenn mein Mann das Monster ist?! Diese zusätzliche „Perspektive“ erhöht nicht nur die Spannung, sondern erzählt auch davon, was passieren kann, wenn eine Stadt von der Angst beherrscht wird. Auch den Kommissaren geht es nicht gut. Beide leiden wie die Hunde bei diesem Fall, der ins Stocken gerät, weil die Beweislage dünn ist. Eine Szene, nachts auf dem Präsidium, bringt die Situation auf den Punkt. Bukow säuft, König ringt nach Worten und schreit ihren Frust zum Fenster raus, dazu laufen die blutigen Tatort-Videos von vor fünfzehn Jahren. Die grausamen Morde sorgen wieder für mehr Nähe zwischen den beiden, deren Beziehung sich im letzten Film, „Kindeswohl“, auf dem Tiefpunkt befand. Bukow ist zwar noch immer wütend, was der sonst so Schweigsame zumindest ein Mal polternd herauslässt, er entdeckt aber auch wieder eine gewisse Fürsorgepflicht gegenüber der Kollegin, die völlig von der Rolle ist. Liebevoll legt der gezähmte Straßenköter der einst so taffen Kommissarin eine Hand auf die Schulter. König weiß die Anteilnahme zu schätzen – was im Schlussbild noch einmal mit einem Wow-Moment zum Ausdruck kommt. Bis dahin heißt es auch für den Zuschauer: mitgehen und mitfühlen. Nicht nur Bukow und König verdienen sich die Empathie des Betrachters, auch das Schicksal der halbwüchsigen Tochter einer der beiden Verdächtigen (beeindruckend, obwohl noch nie vor der Kamera: Emilia Nöth), die schwere Zeiten durchlebt, weil die Liebe zu ihrem Vater auf eine harte Probe gestellt wird, erregt größtes Mitleid beim Zuschauer.
Foto: NDR / Christine Schroeder
Eine dichte, klug und komplex gebaute, multiperspektivisch erzählte Geschichte
„Dunkler Zwilling“, der Titel bezieht sich zum einen ganz konkret auf die Vita des Täters, er ist aber zugleich auch eine Metapher für die Atmosphäre und die Dramaturgie des Films. Dieser „Polizeiruf 110“ ist dunkel und düster in Aussage und Anmutung, weidet sich aber nicht an grausamen expliziten Bildern der blutigen Taten; außerdem verzichtet Autor-Regisseur Damir Lukacevic („Transfer“ / „Im Namen meines Sohnes“) auf jene bleierne, statische Schwere, in die solche Szenarien in deutschen Krimidramen häufig getaucht werden. Statt dessen ergibt sich aus einer dichten, klug und komplex gebauten, multiperspektivisch erzählten Geschichte ein spannender filmischer Fluss, bei dem auch der Filmtitel indirekt eine Rolle spielt: Das Prinzip Zwei als Paar und Gegensatzpaar – es gibt zwei Verdächtige, zwei Hauptermittler, zwei aktuelle Tote, zwei „Komplizen“ der Kommissare, ohne die der Täter nicht überführt werden könnte. Und diesem Prinzip folgt Lukacevic auch formal, indem er immer wieder in kompakten Parallelmontagen erzählt. Während Katrin König Kerns Tochter bearbeitet, spricht Elke Hansen bei Bukow vor. Packend parallel konstruiert ist auch der Showdown. Auffallend gut sind ebenfalls die Dialoge, markant, nie zu lang und immer mit physisch-sinnlichem Subtext versehen – Sätze, die nicht so schnell verhallen, ja gelegentlich von einem Gegenüber kommentiert werden. „Wenn’s hilft, den Täter zu überführen“, sagt Kern. „Sie meinen, wenn’s hilft, Sie als Täter auszuschließen“, entgegnet König. Ein anderer Satz des Umzugsunternehmers, „Ich bin friedlich wie der Ozean“, provoziert wenig später sogar den maulfaulen Bukow zu einer Replik: „Tiefe Wasser sind nicht still.“ Und manchmal sind die Wortwechsel geradezu launig. König: „Kennen Sie das, wenn einem die einfachsten Worte nicht einfallen?“ Darauf Bukow: „Na klar, was denken Sie, weshalb ich so wenig rede.“
Foto: NDR / Christine Schroeder
„Mit der Liebesgeschichte zwischen Bukow und König wollte ich einen Kontrapunkt setzen zu den Monstern und dem Düsteren der Morde. Ich wollte, dass die Beziehung zwischen den beiden Humor und eine Wärme hat und dass sich da etwas entwickelt.“ (Damir Lukacevic, Buch & Regie)
Die kleinste Geste, jedes Wort, jede Szene, alles in diesem Film besitzt hohe Intensität
Das Zweier-Prinzip setzt sich auch in zahlreichen Szenen fort. Die nachhaltigsten Situationen in „Dunkler Zwilling“ sind die, in denen sich zwei Charaktere gegenüberstehen. Wenn die Verdächtigen mit ihren Liebsten kommunizieren, dann bricht sich nicht selten der blanke Horror Bahn. Ist es bei der Tochter größtenteils die Projektion ihrer eigenen Angst (das Messer im Handschuhfach, das Blut im Auto, die Polizei im Haus), verbunden mit dem Informationsvorsprung des Zuschauers, die den Situationen Ambivalenz und Spannung verleihen, so schaut man beim Ehepaar Hansen einer qualvollen Hassliebe in die sadomasochistische Fratze. „Er macht ihr sehr geschmackvolle Geschenke, quält sie aber zugleich mit Ablehnung und Zurückweisung“, so Alexander Beyer. „Alle Szenen zwischen den beiden sind im Grunde emotionale Gewaltszenen.“ Welche Szenen und Bilder man auch nimmt, Spiel und filmische Umsetzung sind erstklassig. Jedes Wort, die kleinste Geste, jede vermeintlich beiläufige Befragung, alles in diesem Film besitzt eine hohe Intensität. Selbst noch die Fünfer-, Vierer- oder Dreier-Interaktionen des Ermittlerteams haben in diesem Krimi nichts Konventionelles (keiner wird diskreditiert, selbst Pöschel muss sein Rollenklischee nicht bedienen). Und so ist dieser „Polizeiruf“ der seit Jahren beste des stets (sehr) guten Teams aus Rostock, wenn nicht vielleicht sogar der beste überhaupt. (Text-Stand: 9.9.19)