Eine Mutter, ihre entführte Tochter & die anderen kleinen Leute von nebenan
junge Frau ist entführt worden. Die Boutiqueverkäuferin Kim Peelitz (Lucie Hollmann) ist kein typisches Entführungsopfer, und ihre Mutter Anja (Christina Große), die zusammen mit ihr in einer Reihenhaussiedlung wohnt, ist nicht die Frau, die man erpresst. „Wo soll denn eine Altenpflegerin 100.000 € hernehmen?“, fragt sich denn auch Doreen Brasch (Claudia Michelsen) und wundert sich über die Ungereimtheiten in diesem Fall. Ihr Chef (Felix Vörtler) leitet derweil alles Nötige in die Wege und hält im Kommissariat als Verbindungsmann die Stellung, während sich der neue Kollege Dirk Köhler (Matthias Matschke) einfühlsam um die etwas konfus wirkende Mutter der Entführten kümmert und ihr Anweisungen für ihr Verhalten gibt. Denn die Erpresser dürfen auf keinen Fall erfahren, dass Anja Peelitz die Polizei eingeschaltet hat – „keine Polizei, sonst bringen die mich um“, hatte Kim in einem Video-Telefonat ihrer Mutter mitgeteilt. Noch vor der verabredeten Geldübergabe scheint es plötzlich eine Erklärung zu geben für die Erpressung dieser „kleinen Frau“. Die Altenpflegerin hat unlängst von ihrer verstorbenen Mutter 100.000 € geerbt. Allerdings soll angeblich kaum einer davon gewusst haben. Nach der gescheiterten Geldübergabe, stellt sich dann aber heraus, dass viele aus dem näheren Umfeld der Frauen von dem Geld wussten: Anjas zweiter Ex-Mann (Eckhard Preuß), Kims beste Freundin (Anna Herrmann), Kims Ex-Freund und vielleicht sogar der freundliche Nachbar (Rüdiger Klink). Und dann erhöht sich die Lösegeldforderung auf 200.000 € und eine blutige Botschaft an die Polizei soll offenbar unterstreichen, dass es die Erpresser ernst meinen: ein abgeschnittener Finger von Kim.
Auf das Titel gebende „Dünne Eis“ begibt sich auch die Dramaturgie des Krimis
Magdeburg ist keine Metropole. Das Verbrechen kommt hier aus der Mitte der Gesellschaft, was in Sachsen-Anhalt heißt: aus kleinen Verhältnissen. Konsequent und gesellschaftlich „realistischer“ wäre es deshalb gewesen, wenn dieser „Polizeiruf 110“ einmal auf den obligaten Mord verzichtet hätte. Doch der wird dramaturgisch dringend gebraucht, damit der 70 Minuten als Rückblende erzählte Film mit seiner wackligen Krimikonstruktion bis zum bitteren Ende funktionieren kann. Dass „Dünnes Eis“ vor allem zu Beginn eine schwächere Dynamik entwickelt als andere Entführungskrimis, die häufig als temporeiche Thriller erzählt werden, entspricht retrospektiv zwar dem alltagsnahen Milieu, dennoch hat man als Zuschauer während des Sehens den Eindruck, der Ausnahmezustand, in dem sich alle Figuren befinden, vermittle sich einem – gemessen am Sujet – nur unzureichend. Auch das mag mit Magdeburg zu tun haben, aber eben auch mit einem Drehbuch, dem vor lauter Tricksereien die klare Linie fehlt: Nach einem Drittel schwenkt der Entführungskrimi über in einen Whodunit, der die übliche Ermittlungsroutine mit sich bringt, bevor nach 70 Minuten alles scheinbar auf Anfang gestellt wird – obwohl die Lösung des Entführungsrätsels ab jetzt jedem einigermaßen krimierfahrenen Zuschauer klar sein dürfte. Jetzt müssen noch ein paar simple Ermittlermaschen (den Verdächtigen freilassen, damit sich die Kommissare an dessen Fersen heften können) her, damit man auch noch die letzten 15 Minuten herumkriegt. Im Nachhinein muss man Regisseur Jochen Alexander Freydank („Große Fische, kleine Fische“) fast schon in Schutz nehmen ob seiner unentschlossenen Inszenierung, des kurzatmigen, aber selten Spannung erzeugenden Schnitts und der Krimiverlegenheitsmusik, die besonders im ersten Drittel immer wieder über die Bilder gelegt werden muss. Es ist aber die Struktur der Geschichte mit den ständigen Brüchen, die eine straffe, stimmige Filmerzählung erschwert.
Erneut thematisiert ein Sonntagskrimi Schwierigkeiten der Wahrheitsfindung
Jenseits des Konstruktionswirrwarrs besitzt dieser „Polizeiruf“ neben der konsequent erzählten „Kleine-Leute“-Tonart ein interessantes psychologisches Motiv, das allerdings aus spannungsdramaturgischen Gründen erst spät ins Spiel kommt und nicht vertieft werden kann. Dafür wird der Fall urplötzlich durch eben dieses Motiv, eine Persönlichkeitsstörung, auf den Kopf gestellt. Ob man dies als packende Wendung goutiert oder es einem als übertrieben „tricky“ missfällt ist letztlich eine Frage des Geschmacks. Über den Film hinaus ist sehr viel interessanter der kleine, in anspruchsvollen TV-Krimis festzustellende Trend, die Schwierigkeiten der Wahrheitsfindung grundsätzlicher in den Handlungen zu berücksichtigen: So sind es im BR-Ausnahme-„Tatort – Die Wahrheit“ (2016) nicht nur die strategischen Lügen des Täters, es sind auch die sich widersprechenden Aussagen der Zeugen, und im amüsanten Dresden-„Tatort – Der König der Gosse“ (2016) werden gelogene Rückblenden sogar zum alles beherrschenden Stil-Prinzip. Und nun ist es eine notorische Lügnerin, die die Logik der Ermittlungen von einer Sekunde zur nächsten infrage stellt. Kann es Zufall sein, dass dieses Problem, das sich Kommissaren seit jeher stellt, ausgerechnet jetzt, in Zeiten von AfD, Trump & Pegida, in Zeiten, in denen die Lüge als geradezu normative Kraft das Faktische ersetzt, reflektierend Einzug in die moralische Institution TV-Krimi hält? Hat sich hier nun endlich doch einmal bestätigt, was Senderredakteure seit Jahren gebetsmühlenhaft zu Protokoll geben: dass des Deutschen liebstes Genre in der Lage sein kann, gesellschaftliche Zustände – wie unterschwellig und tiefenpsychologisch auch immer – zu spiegeln?!
Eine „kranke“ Frau, tolle Schauspieler & zwei Figuren, die sich finden müssen
Im Gegensatz zu den „Tatort“-Schauplätzen Weimar und Dresden mit den Ermittler-Käuzen Tschirner, Ulmen und Brambach bleibt der dritte Krimi-Standort des MDR, Magdeburg, eine humorfreie Zone. So ein bisschen scheint dieser Ableger des DDR-Straßenfegers das Krimi-Schwarzbrot zu sein, ein hartes Randstück, das die Krimidrama-Tradition der kleinen Leute fortführt und gelegentlich auch etwas braunen Zeitgeist ins Spiel bringt. Mit „Dünnes Eis“ scheint Stefan Rogall, der die Idee zum Drehbuch von Eoin Moore und Anika Wangard hatte, eine Art Fortsetzung seines Grimme-Preis-gekrönten „Polizeiruf 110 – Kleine Frau“ (RBB, 2006) im Sinn gehabt zu haben: „Kranke Frau“. Christina Große interpretiert einmal mehr großartig das Psychogramm einer Mutter, die Ängste und Schuldgefühle weitgehend hinter der Fassade von Normalität und Hilflosigkeit zu verstecken versucht. Auch Claudia Michelsen und Matthias Matschke müssen einiges hinter ihren coolen und verkniffenen Mienen verstecken. Michelsen auf dem Motorrad macht sich optisch gut – ob allerdings die Lederjackenkluft und der Einzelgänger-Habitus zur tieferen Charakterisierung ihrer Figur beitragen, fragt man sich nach sechs Einsätzen noch immer. Matschke, erst zum zweiten Mal im Team, sucht gemeinsam mit den Autoren noch ein bisschen nach seiner Figur. Ein Ausraster des auf den ersten Blick so verständnisvollen, sympathisch empathischen Kommissars weist schon mal in eine vielversprechende Richtung („Wut ist einfach mein Thema“). Obgleich die Konflikte ihrer Figuren – geschrieben – noch weitgehend kalter Kriminaler-Kaffee sind, so dürfen doch Michelsen und Matschke in „Dünnes Eis“ immer wieder zeigen, was für großartige Schauspieler sie doch sind. Unsere Besten zu Kommissaren zu machen, lohnt sich also durchaus – zumindest für die Krimis. (Text-Stand: 25.1.2017)