Mit einer unerhörten, ambivalenten Mutter-Figur setzt Drehbuch-Autorin Elke Schuch gleich zu Beginn einen Reizpunkt, der das Publikum gleichermaßen verstören und – auch dank der Inszenierung (Andreas Herzog) und Bildgestaltung (Marcus Kanter) – in den Bann schlagen dürfte. Mascha (Meira Durand) und ihre fünfjährige Tochter Holli (Mathilda Graf) sind ein Herz und eine Seele. Allerdings ist die liebevolle Mutter ein Junkie, der die kleine Holli als Komplizin missbraucht. Während Mascha sich an der Theke eines Clubs einen Mann angelt, stiehlt ihre Tochter das Portemonnaie aus der Manteltasche des Opfers. Besonders krass die Szene auf der Damentoilette, in der sich Mascha einen Schuss setzt, während Holli vor der Tür geduldig wartet. Herzog und Kanter irritieren, indem sie die deprimierende Situation in einen Seifenblasen-Bildertraum verwandeln. In der Nacht brechen Mascha und Holli noch in eine Wohnung ein, versorgen sich mit Lebensmitteln – und entdecken die Leiche einer alten Frau.
Das Rostocker „Polizeiruf“-Team hat es durch den Abgang von Charly Hübner alias Kommissar Bukow – dem Halbbruder seiner Nachfolgerin Melly Böwe (Lina Beckmann) – ordentlich durchgeschüttelt. Dass die Konflikte nicht nach ein oder zwei Episoden glattgebügelt werden und einfach weiter ermittelt wird, als sei nichts geschehen, kennzeichnet die Sorgfalt der horizontalen Erzählweise. Etwas blass bleibt hier lediglich der von Uwe Preuss gespielte Dienststellen-Chef Henning Röder. Der bei der Neubesetzung von Bukows Stelle übergangene Volker Thiesler (Josef Heynert), lange Zeit eigentlich der vernünftigste der männlichen Ermittler im Team, ist nachhaltig verärgert und hofft auf Rückendeckung vom neuen Staatsanwalt Benjamin Hinze (Maximilian Dirr). Für eine Weile steht zu befürchten, dass die Sache in einen plumpen Geschlechterkampf ausartet. So simpel wird die Sache aber nicht, auch weil Thiesler ausgerechnet von Anton Pöschel (Andreas Guenther), dem einst leicht beschränkten Macho, Gegenwind bekommt – eine schöne Verkehrung der alten Zustände. Und dass der Staatsanwalt seltsamerweise auf einer Yacht im Hafen lebt, passt in das schräge, interessante Kabinett der Nebenfiguren. Dazu zählt auch der Ehemann der getöteten Frau. Konrad Bödecke, den Michael Stange wie in Zeitlupe spielt, ist Taxifahrer und 30 Jahre jünger als seine Frau, eine ehemalige Journalistin.
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Die Anspannung im Rostocker Team hat einen weiteren, zu erwartenden Grund: Bereits in der letzten Episode („Nur Gespenster“) war Katrin Königs (Anneke Kim Sarnau) Vater Günther (Wolfgang Michael) 40 Jahre nach der gescheiterten Flucht in den Westen plötzlich wieder aufgetaucht. Nun folgen schwierige Begegnungen und ziemlich fruchtlose Gespräche, in denen Günther keine wirkliche Erklärung für sein langes Desinteresse an der eigenen Tochter liefern kann. König ist frustriert und fühlt sich zunehmend bedrängt, insbesondere als ihr Vater mit einem Blumenstrauß im Kommissariat auftaucht. Zwar kann sich Günther aufrichtig entschuldigen, aber er scheint nur deswegen den Kontakt zu seiner Tochter zu suchen, weil er Hilfe benötigt. Starke Szenen sind das, in denen die Fremdheit und Unbeholfenheit zwischen beiden mit Händen zu greifen ist. Sehenswert ist insbesondere, wie Anneke Kim Sarnau die widerstreitenden Gefühle ihrer Figur zum Ausdruck bringt. Und erfreulicher Weise deutet sich weder ein unpassend kitschiges noch ein total hoffnungsloses Ende an.
Bei den Ermittlungen wirkt Katrin König jedenfalls verständlicher Weise abgelenkt und schnell ungeduldig. Nachvollziehbar auch, dass die kinderlose und von Bukow verlassene Profilerin deutlich schärfer auf Mascha reagiert als Melly Böwe, die ihre mittlerweile erwachsene Tochter im Alter von 16 Jahren bekam und alleine großzog. Die Zusammenarbeit der beiden Ermittlerinnen hat etwas Old-School-Artiges, Modell „good cop, bad cop“, aber in einer lebensnahen, ungekünstelten Version. Während König der drogensüchtigen Mascha keine Sekunde über den Weg traut, profiliert sich Böwe als empathische Kommissarin, die vor allem die große Liebe zwischen Mutter und Tochter sieht und nicht zerstören will. Geschickt unterstützt Herzogs Inszenierung den liebevollen Kern der Mutter-Kind-Beziehung, indem der Unterschlupf von Mascha und Holli in einer Laube eines Kleingartenvereins als fantasievoll-einladender Ort gestaltet wird. Das hat zwar einen romantisierenden Beigeschmack, aber die vom Drogenkonsum gezeichnete Mascha träumt sich raus aus der Laube und verspricht Holli ein unbeschwertes Leben in einem eigenen Haus.
Diese Sehnsucht spiegelt sich auch im eigentlichen Kriminalfall, der sich um den zweifelhaften Immobilienfonds eines Wohlfahrtsverbands dreht, des fiktiven Bundesverbands für Senioren und Pflege, eine in der Ostsee-Region einflussreiche Organisation. Das ist eine etwas gewagte Konstruktion, immerhin unterhält Thieslers vergeblicher Versuch, bis zum Geschäftsführer des Verbands vorzudringen, dank des Dialogs mit dem Assistenten Finn Albrecht (Maximilian Scheidt) kafkaesken Humor. Während die originellen Nebenfiguren für kurzweilige Abwechslung sorgen, bleibt der Stoff im Kern hart und spannend – mit Mascha als treibende Kraft, die sich trotz Drogensucht als erstaunlich zäh und entschlossen erweist: Wie eine Außerirdische taucht sie in der Bilderbuch-Welt der Familie des Finanzberaters Kai Schopp (Robin Sondermann) und seiner Frau Alina (Monika Oschek) auf. Der riesige Garten vor prächtiger Villa wirkt imposant, aber die Atmosphäre ist merkwürdig kalt und lieblos. Mascha setzt Schopp unter Druck und wird auch für die gutmütige Melly Böwe zur besonderen Herausforderung. Darstellerin Meira Durand hat bereits im „Tatort – Für immer und dich“ (2019) von Julia von Heinz Eindruck hinterlassen und bestätigt dies nun mit einem großartigen Auftritt in einer ambivalenten Mutter-Rolle. (Text-Stand: 21.1.2024)
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