Zur Einführung in diesen Film ist ein kurzer Rückblick angebracht: Vor zehn Jahren hatte das Rostocker „Polizeiruf“-Team seinen ersten Auftritt. Da war Kommissar Bukow (Charly Hübner) derjenige, der im Ruf stand, es nicht allzu genau zu nehmen mit Recht und Gesetz, und der immer mal wieder in einen Gewissenskonflikt wegen der kriminellen Geschäfte seines Vaters Veit (Klaus Manchen) geriet. Bukow stand in den ersten Filmen permanent unter Strom, auch seine Ehe ging zu Bruch. Und während Charly Hübner diesen in seine Heimatstadt Rostock zurückgekehrten Straßenbullen mit einer rauen, impulsiven Physis spielte (und noch spielt), gab Anneke Kim Sarnau die rational ermittelnde Musterbeamtin König. Im Laufe der Jahre wurden die gegensätzlichen Figuren allerdings stetig und sorgfältig weiterentwickelt. Nichts geschah dabei einfach so, sondern immer nachvollziehbar begründet durch schwer wiegende Ereignisse und Brüche in der Biografie. König musste sich in Episode 15 („Angst heiligt die Mittel“) gegen einen Vergewaltigungsversuch wehren, stach dabei panisch mit einem Schraubenzieher mehrfach auf den bereits wehrlosen Täter ein. Bukow deckte sie mit einer falschen Zeugenaussage, beide wurden zu Beginn der Folge 19 („Für Janina“) zu Geldstrafen verurteilt. Doch am Ende des Films war König die treibende Kraft, die dafür sorgte, dass beide dem bereits frei gesprochenen Frauenmörder Guido Wachs einen anderen, nicht begangenen Mord unterschoben. König hatte ihre Unschuld verloren, wieder gedeckt vom (mehr oder weniger heimlich) verliebten Bukow.
Diese horizontale Erzählweise der beiden Hauptfiguren hebt den Rostocker „Polizeiruf“ auf ein besonderes Niveau, zumal die Besetzung mit Anneke Kim Sarnau und Charly Hübner fantastisch funktioniert. Bei diesem schauspielerisch ohnehin erstklassigen Duo, so scheint es, stimmt einfach die Chemie. Die Episode „Der Tag wird kommen“ nun bringt gleich in mehrfacher Hinsicht eine Zäsur. Das gilt für die Beziehung zwischen König und Bukow, das gilt außerdem sowohl für den Handlungsstrang mit Bukows Vater als auch für den mit Guido Wachs. Der für den falschen Mord verurteilte Mann sitzt im Gefängnis, hat scheinbar zum Glauben an Gott gefunden und schreibt schwülstige Briefe an die verunsicherte König. Das begann schon in der letzten Folge („Söhne Rostocks“), mittlerweile ist König schwer angeschlagen. Sie kann nicht schlafen, schluckt immer mehr Tabletten, wird von einem Hautausschlag geplagt. Wachs will sie dazu bringen, ihn im Gefängnis zu besuchen, doch bevor sich König darauf einlässt, wird sie Opfer und Zeugin einer Gewalttat. Beim Joggen im Rostocker Hafen begegnet sie einer jungen Frau, die von zwei Männern attackiert wird. König eilt zu Hilfe, wird niedergeschlagen und wacht erst im Krankenhaus wieder auf. Die Frau jedoch ist tot: Nadja Flemming (Xenia Rahn) wurde nur wenige Meter von der Attacke entfernt erstochen aufgefunden. An die mutmaßlichen Täter kann sich König kaum erinnern, die furchtlose Obdachlose Erna (Rike Eckermann) dagegen schon.
Drehbuch-Autor Florian Oeller („Tödliche Geheimnisse“ / „Die Getriebenen“) versteht es, die verschiedenen Handlungsstränge zu einem homogenen Ganzen zusammen zu führen. Wenn auch manchmal etwas grob gestrickt, etwa im Fall der beiden jungen Gewalttäter, die gleich noch das Drogengeschäft in Rostock an sich reißen wollen. Dafür müssten sich Großmaul Roman (Anton Weil) und sein Kumpan Mike (Florian Kroop) allerdings mit Tito (Alexandru Cirneala) anlegen, einem Zögling von Bukows Vater. Tito ist gerade in die Stadt zurückgekehrt und vertickt eine neue synthetische Droge. Das ist gleichzeitig Pöschels (Andreas Guenther) große Chance: Bukows Kollege, der gerne breitbeinig daherkommt, aber eher auf schmaler Spur unterwegs ist, wird von der Chefin der Anti-Drogen-Einheit auf Tito angesetzt – mit der Aussicht, ihr Nachfolger zu werden. Bukow und König haben derweil mit dem Tod von Nadja Flemming und den beiden flüchtigen Männern zu tun: Bukow glaubt, Nadja Flemming, die früher eine talentierte Leichtathletin war (wie Darstellerin Xenia Rahn im wahren Leben auch), sei einem Raubmord zum Opfer gefallen. Nadja hatte ihre Karriere beendet, als sie sich in Klaus Flemming (Helgi Schmid) verliebte und einen Sohn bekam. Der lebt nun allerdings mit Annie (Victoria Schulz) zusammen und hat auch das Kind mitgenommen. Nadja kam immer samstags zu Besuch, angeblich lief alles ganz harmonisch.
Regisseur Eoin Moore, der mit sieben Mal Regie und sieben Mal (Ko-)Autorenschaft maßgeblich mit an der Entwicklung des „Polizeirufs“ aus Rostock beteiligt ist, zu „Der Tag wird kommen“ (den er nur inszeniert hat):
„Die Geschichte hat deutlich mehr Genreelemente, als ich gewohnt bin. Meine eigenen Texte sind stärker im Realismus verhaftet … In diesem Buch ist Wachs ein bisschen ins Unheimliche gewachsen.“ Zum Kamerakonzept: „Wir haben mit einer minikleinen Action-Kamera gearbeitet. Mit der kann man extreme Bilder aus extremen Perspektiven machen. Die Kamera eignete sich vor allem dafür, den labilen psychischen Zustand von Katrin König widerzuspiegeln.“
Viel Stoff also, und die Auflösung im Fall Flemming erscheint auch eher gewagt und unglaubwürdig. Die Spannung bleibt aber insbesondere durch Königs seelischen Ausnahme-Zustand und Wachs‘ suggestive Erpressung hoch. Gegen Bukows Rat besucht sie den Mörder im Gefängnis. Wachs bietet ihr eine Art Deal an: Wenn König gestehe, dass sie gefälschte Beweise vorgelegt habe, wolle er den von ihm tatsächlich begangenen Mord ebenfalls gestehen. „Wir bereuen und erlösen uns von dem Bösen und dann trennen sich unsere Wege – geheilt, ohne jeden Schmerz“, sagt er. Außerdem verlangt Wachs, dass König seine Frau dazu bringt, ihn ebenfalls zu besuchen. Dem Mörder scheint es zu gelingen, die Polizistin zu manipulieren, an sich zu binden. Außerdem hat er offenbar einen Helfer außerhalb der Gefängnismauern, denn König wird in ihrer Wohnung überwacht, und wenn sie nachts schlafen will, dreht jemand die Lautstärke des künstlich erzeugten Tinnitus hoch. König taumelt angeknockt durch diesen Film, kommt aber gerade deshalb dem wahren Hintergrund von Nadja Flemmings Tod auf die Spur. Die klassische Krimi-Aufklärung gerät aber am Ende zur Nebensache. Denn da laufen alle Geschichten zusammen, Pöschels Ermittlung, das Vater-Sohn-Drama im Hause Bukow, der Machtkampf zwischen König und Wachs. Ein temporeiches, hoch spannendes und emotionales Finale, übrigens auch mit eindrucksvollen Bildern von einer ungewöhnlichen Location, der Ruinenstadt auf der Halbinsel Wustrow.