Paula badet am Samstagnachmittag in der Oder. Tage später wird die Leiche des hübschen, 19 Jahre alten Au-pair-Mädchens aus dem Fluss geborgen. Ihr Kehlkopf ist gebrochen, möglicherweise durch einen harten Schlag. Der Gerichtsmediziner findet außerdem Sperma in der Scheide, aber keine Verletzungen, die auf eine Vergewaltigung hindeuten. Paula lebte und arbeitete bei der wohlhabenden Familie Heise. Der Vater ist Arzt und wohnt mit seiner Frau, dem gemeinsamen Sohn und dessen beiden kleinen Kindern in einem stattlichen Anwesen. Leichenfund, erste Vernehmungen, Termin beim Gerichtsmediziner – „Der Fall Sikorska“ beginnt klassisch und kommt schnell zur Sache. Die Polizei stößt auf eine Anzeige gegen den Arzt Gerd Heise (Götz Schubert), der vor 15 Jahren beschuldigt wurde, seine Stieftochter Julia Sikorska sexuell missbraucht zu haben. Die Anzeige stammte vom leiblichen Vater (Krzystof Franieczek), der mit der Trennung damals „nicht gut umgehen konnte“, wie Julias Mutter (Lina Wendel) ungerührt bemerkt. Die Ermittlungen der polnischen Polizei wurden ergebnislos eingestellt. Allerdings ist die damals 20jährige Julia seitdem verschwunden, alle Nachforschungen blieben ergebnislos. Irgendwann habe sie sich entschieden, weiter zu leben und darauf zu hoffen, dass es ihrer Tochter gut gehe, sagt die Mutter.
Zwei Fälle und ein deutsch-polnisches Familiendrama: Bernd Lange und Hans-Christian Schmid, die gemeinsam schon Drehbücher für herausragende Produktionen wie den Kinofilm „Requiem“ oder die Miniserie „Das Verschwinden“ geschrieben haben, sind erstmals als „Polizeiruf“-Autoren tätig. Und „Der Fall Sikorska“ kommt in der Inszenierung von Stefan Kornatz zwar als unspektakulärer, weitgehend konventionell erzählter Krimi daher, doch die Geschichte und die Figuren haben es in sich, grob gesagt: #MeToo, angereichert mit deutsch-polnischem Konfliktstoff. Neben den unterschwellig spürbaren Aversionen spielt das soziale Gefälle beiderseits der Grenze eine Rolle. Die Heises beschäftigen in ihrer schnieken Villa natürlich auch eine polnische Putzfrau, während Julias polnischer Vater allein in einer bescheidenen Datsche haust. Mit dem Tod Paulas sieht er seine Chance gekommen, um wieder gegen den verhassten Arzt aus dem Westen vorzugehen: „Endlich passiert etwas.“ Auch das Ermittlerteam ist sich nicht ganz einig. Während Olga Lenski (Maria Simon) sofort Verdacht schöpft und der alten Spur nachgehen möchte, will sich Adam Raczek (Lucas Gregorowicz) lieber auf den aktuellen Fall des getöteten Au-pair-Mädchens konzentrieren.
Es zeichnet den Film jedoch aus, von der deutsch-polnischen Normalität beiläufig, ohne übertriebene Dramatik zu erzählen. Im Vordergrund bleiben immer der Kriminalstoff und die damit verbundenen familiären Konflikte. Es geht, zugegeben, etwas spröde zu, mit vielen Dialogen, einem gleichförmigen Tempo und einem Ermittler-Gespann, das sich auch im sechsten gemeinsamen Film eher fremd geblieben ist. Wobei Lange und Schmid das Privatleben der Kommissare diesmal konsequent ausblenden; auch Lenskis Tochter taucht diesmal nicht auf. Die Spannung erwächst aus der klassischen Whodunit-Frage „Wer war’s?“, und am Ende werden beide Fälle gelöst sein, aber – und hier ist der Film dann doch unkonventionell – der genaue Hergang der Taten bleibt offen. Es gibt auch sonst keine einzige Szene, in der körperliche Gewalt zu sehen wäre. Und doch erzählen die Autoren treffend und zunehmend beklemmend von vielen Aspekten, die beim Thema sexuelle Übergriffe ein Rolle spielen. Kommen viele Täter davon, weil betroffene Frauen allein gelassen werden? Etwa weil sie zurecht Sorge vor beruflichen Nachteilen haben? Aber geraten nicht auch unbescholtene Männer schnell unter Verdacht? „Der Fall Sikorska“ lotet das Spannungsfeld aus, ohne sich direkt auf die #MeToo-Debatte zu beziehen. Mit einer beinahe sachlich erzählten Geschichte, die ein vielleicht nicht ganz und gar überraschendes, aber dennoch bestürzendes Ende nimmt. Einen Auftritt, der besonders in Erinnerung bleibt, hat hier Lina Wendel, auch wenn sie als aus Polen stammende Arztgattin keine naheliegende Besetzung ist. Aber als Ehefrau, die sich, komme was wolle, entschlossen hat, ihrem Mann zu glauben und vertrauen, ist sie großartig.