Die Leiche der 16-jährigen Laura wird gefunden, eingewickelt in eine Plastikfolie, halb verscharrt unter einem Strauch in einem trostlos wirkenden Park am Rande einer Münchener Vorstadtsiedlung. Kommissarin Elisabeth Eyckhoff (Verena Altenberger) hält ihren ersten Eindruck vom Tatort als Sprachaufnahme auf ihrem Smartphone fest. Aber dann werden wir Zuschauer als Bildbetrachter selbst herausgefordert. Eyckhoff geht ein paar Schritte und blickt auf eine mit Graffitis besprühte Beton-Skulptur in der Nähe – und auf ein rotes Klettergerüst. Aber ist das Gerüst wirklich da? Ist es nur Einbildung? Oder Erinnerung? Die rasch geschnittene Szenenfolge irritiert, die Nahaufnahme der Kamera registriert dagegen genau die Reaktion der Kommissarin, die irgendetwas zu bemerken scheint, was sich dem Publikum vorerst nicht erschließt. Was aber am Ende ein Schlüssel zur Aufklärung des Falls sein wird. Die Szene ist ein kleines Lehrstück, wie man ohne Worte Spannung erzeugen kann.
Foto: BR / Hendrik Heiden
Der lange, intensive Blick in die Gesichter ist ohnehin eines der auffallend häufig eingesetzten Stilmittel in der „Polizeiruf“-Episode „Das Licht, das die Toten sehen“. Neben Altenberger, diesmal mit Kurzhaar-Frisur, prägen insbesondere zwei weitere weibliche Gesichter den Film: Stefanie (Zoë Valks), eine junge Frau mit Nasenpiercing und blonden, ebenfalls kurzen Haaren, streunt auf Rollschuhen durch die Hochhaussiedlung, kümmert sich um ihren stets panischen Freund Patrick (Aniol Kirberg), lächelt nie und verkauft Drogen. Caroline Ludwig (Anna Grisebach) ist die Mutter eines vor zwei Jahren verschwundenen Mädchens. Zu Beginn sieht man sie im „Eistanz-Palast“ am Rande stehen, die Pirouetten einer offenbar begabten Eiskunstläuferin bewundernd. Die Läuferin ist Laura, die bald darauf ermordet wird. Caroline Ludwigs Tochter Anne (Emily Heidenreich) sah ihr auffallend ähnlich.
Das Vorstadt-Drama besticht durch eine subtile Spannung, die durch die große Nähe zu den Figuren und eine betont visuelle, atmosphärisch dichte Erzählweise entsteht. Wenn Stefanie im Dunkeln allein durchs Viertel rollt, spiegelt das einerseits das dynamische Treiben auf der Eisfläche und bildet andererseits einen Kontrast zum Freizeitvergnügen der vielen Schlittschuhläufer unter flackerndem Scheinwerferlicht. Der „Eistanz-Palast“ als fremdartige, grell beleuchtete Insel in einer ebenso kalten, aber düsteren Hochhauswelt. Wenn sich Stefanie und Patrick mit Freunden treffen, hängen sie irgendwo auf einem Parkdeck ab. Und das Durcheinander in ihrer Wohnung steht wohl sinnbildlich für das innere Chaos der beiden haltlosen Figuren. Wieso das Drehbuch von Sebastian Brauneis und Roderick Warich dem jungen Paar so viel Aufmerksamkeit schenkt, bleibt vorerst unklar. Eine Sozialstudie über drogenabhängige Jugendliche wird aus dem Film jedenfalls nicht.
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Nach dem Leichenfund meldet sich Caroline Ludwig bei der Polizei – in der Annahme, die Tote sei ihre Tochter. Denn die wurde nie gefunden. Stattdessen scheinen Aufnahmen einer Überwachungskamera zu belegen, dass Anne vor zwei Jahren in einen Fernbus nach Italien gestiegen ist. Seitdem fehlt von ihr jedoch jede Spur. Weil sie ein ähnlicher Typ wie Laura war und häufig in derselben Eislaufhalle Schlittschuh lief, hält es auch Kommissarin Eyckhoff für möglich, dass Laura bereits das zweite Opfer war. Parallel zu den polizeilichen Ermittlungen schleicht Caroline Ludwig auf etwas unheimliche Weise durch den Film. Wie ein ruheloser Geist taucht die traumatisierte Mutter an verschiedenen Orten auf und beobachtet das Treiben rund um den „Eistanz-Palast“, in der Hoffnung auf Hinweise für das Verschwinden der Tochter. Allerdings gerät Caroline Ludwig bald selbst in Verdacht, weil ein Handyvideo von ihr mit Laura auftaucht und weil sie von ihrem Ex-Mann Martin (Miguel Abrantes Ostrowski) beschuldigt wird, die eigene Tochter misshandelt zu haben.
Der Fall bringt die Qualitäten der Hauptfigur ein weiteres Mal zur Geltung: Eyckhoff erweist sich in den Befragungen als einfühlsam und den Menschen zugewandt. Verena Altenberger spricht mit sanfter Stimme, wägt die Worte vorsichtig ab, und ihr offener Blick signalisiert echtes Interesse. Die kriminalistische Faktenhuberei gibt es auch, aber in der Eyckhoff-Reihe geht es nicht so sehr darum, Fälle akribisch abzuarbeiten, sondern die menschlichen Beziehungen zu verstehen und die Motive für das Handeln zu finden. Über ihr berufliches Verständnis spricht die Kommissarin gleich zu Beginn bei der Befragung durch eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern. Man sieht und hört eine reflektierte Polizistin, die auch gegenüber ihrem alten und neuen Kollegen Dennis Eden (Stephan Zinner) Haltung beweist.
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Mit Eden arbeitete sie bereits im dritten Film („Frau Schrödingers Katze“) auf dem Revier in Sendling zusammen – eine ungewöhnliche Kontinuität, die untypisch ist für die Reihe. Denn bisher war die „Bessie“ Eyckhoff beruflich eine ausgesprochen unstete Person. Auch im fünften Film, in dem sie zwar wie schon in Dominik Grafs „Bis Mitternacht“ bei der Münchener Mordkommission arbeitet, steht ihr Schreibtisch wieder woanders, und erneut bekommt sie es mit einer neuen Staatsanwältin (Hanna Scheibe) zu tun. Mit dem alten und neuen Kollegen Eden entwickelt sich immerhin trotz mancher Meinungsverschiedenheit eine kollegiale Zusammenarbeit. Aber eine ausgeprägte Mannschaftsspielerin ist diese „Bessie“ Eyckhoff nicht, und den „Love Interest“ des Publikums bedient diese Figur ohne Privatleben bisher auch nicht. Mehr als Andeutungen in Halbsätzen offenbart die Kommissarin, die tief in das Seelenleben ihrer Mitmenschen eindringt, von sich selbst lieber nicht – ein Dreh, der diese Figur noch interessanter macht. (Text-Stand: 20.4.2022)