Zwei junge Frauen entdecken auf einer winterlich verschneiten Lichtung ein erschossenes Reh. „Mitten in der Schonzeit“, empört sich Sarah Volkmann (Raika Nicolai) und wird kurz darauf selbst durch einen Kopfschuss aus dem Hinterhalt getötet. Ihre Begleiterin Nele Schuldt (Lorella Lubsch) kann fliehen, wird jedoch ebenfalls mehrfach beschossen und später verletzt im Wald gefunden. Die Kamera lenkt den Blick auf einen Verdächtigen, noch ehe die Polizei am Tatort ist. Allein und mit geschultertem Gewehr ist Milan Greuner (Eloi Christ) im Wald unterwegs. Dass er das Tier, das er in einem Sack nach Hause trägt, selbst tötete, ist naheliegend. Mutter Eva (Jördis Triebel), die eine Fischräucherei betreibt, beobachtet den eigenen Sohn misstrauisch. Milan weist Blutspuren an den Händen und am Körper auf. Als er das T-Shirt auszieht, kommen zahlreiche Blutergüsse zum Vorschein. Stumm schlägt Milan der erschrockenen Mutter die Nase vor der Tür zu.
Foto: NDR / Michael Ihle
Die finsteren Zeichnungen, die zu Beginn eingestreut werden, der abgelegene Schauplatz, die winterliche Kälte, die befremdliche Distanz zwischen Milan und Eva – die atmosphärisch dichte Inszenierung von Alexander Dierbach stimmt gekonnt auf den intensiven, psychologisch spannenden Fall in „Böse geboren“ ein. Die Ermittlungen der Polizei lassen auf einen Krieg zwischen Tierschützern und Wilderern schließen. In den Fokus gerät die Familie der Revierförsterin Julia Cobalt (Annika Kuhl). Ihr Mann Tobias (Nicki von Tempelhoff) und Bruder Hannes (Thilo Prothmann) sind leidenschaftliche Jäger. Allerdings sitzt Hannes im Rollstuhl, seit er von einem angesägten Hochsitz gestürzt ist. Somit hätte der wütende Hannes womöglich auch ein Motiv für den Mord an Sarah. Julias Sohn Paul (Jonathan Lade) wiederum scheint der Einzige zu sein, der noch den Kontakt zu Milan aufrechterhält.
Auch Kommissarin Melly Böwe ist von Anfang an mit einem privaten Konflikt beschäftigt, der die Konturen der Figur schärft. Für Darstellerin Lina Beckmann, die nach brillanten Vorstellungen am Schauspielhaus Hamburg („Laios“, „Die Abweichlerin“) gerade den Gustav-Gründgens-Preis erhalten hat, ist die Einführungsphase in ihrem fünften „Polizeiruf“-Einsatz in Rostock endgültig vorbei. Ihre bisher eher leichtfüßige, warmherzige Figur offenbart nun ernste Seiten und tiefe Verletzungen. Melly Böwe hat ihrer heranwachsenden Tochter Rose (Emilie Neumeister) den Namen des Vaters bisher verschwiegen – und schweigt selbst dann noch, als Rose plötzlich vor der Tür steht und die Wahrheit einfordert. Lina Beckmann spielt die Kommissarin Böwe weiterhin patent und nahbar, deutet aber die widerstreitenden Gefühle und den inneren Schmerz der Figur immer mal wieder an: durch ein ratloses Schweigen, ein kurzes Zögern oder eine minimale Veränderung in dem sonst souveränen Auftreten. Warum sich Böwe so schwertut, der Tochter die Wahrheit zu enthüllen, offenbart sich später in einem überraschenden Augenblick.
Foto: NDR / Michael Ihle
Das Drehbuch von Catharina Junk und Elke Schuch handelt in verschiedener Hinsicht davon, wie die Eltern ihre Kinder prägen. Dass es ein Verbrecher-Gen gäbe, wird hier nicht propagiert. Aber wie verändert es das Selbstbild und das eigene Umfeld, wenn der Vater ein Serienmörder war? Wenn Angehörige, Freunde und Bekannte nur darauf zu lauern scheinen, dass sich auch dessen Kind gewalttätig verhält? Milan hat sich angesichts des Misstrauens, das ihm entgegenschlägt, vollkommen zurückgezogen – und wirkt deshalb umso unheimlicher. Die Bildgestaltung von Ian Blumers trägt ihren Teil bei: Wir Zuschauer:innen blicken oft aus der Distanz und mit den Augen der anderen auf diesen schweigsamen Einzelgänger. Herausragend auch das Spiel von Jördis Triebel als Milans innerlich zerrissene Mutter, die ihren Sohn liebt und ihm gleichzeitig den Mord an der Tierschützerin zutraut. Die Spannung bleibt hoch, auch wenn man vielleicht erwarten darf, dass der Hauptverdächtige in einem Reihenkrimi am Ende nur selten der Täter sein wird.
Böwes Familiengeschichte spiegelt das Thema des Films, ohne dass dies aufgesetzt wirken würde, denn damit wird nur eine kontinuierliche Erzählung fortgesetzt. Sogar der längst abwesende, von Beckmanns Mann Charly Hübner gespielte Sascha Bukow geistert immer noch durch die Krimireihe. Bukow hatte sich aus Rostock abgesetzt und seine Liebe Katrin König (Anneke Kim Sarnau) allein zurückgelassen. Das hat Spuren hinterlassen: Dünnhäutig zeigt sich König bei den Ermittlungen immer noch. Mit dem neuen, rein weiblichen Duo – Volker Thiesler (Josef Heynert) und Anton Pöschel (Andreas Guenther) sind diesmal nur Randfiguren – gehen verschiedene Richtungswechsel einher: Während König früher im Vergleich zum robusten Bukow die Besonnenere war, macht nun Bukows Halbschwester Böwe den ruhigeren Eindruck, trotz des erlittenen Traumas, das sich hier offenbart. Rose, die sich in ihrer Not auch an König wendet, fordert die Wahrheit über ihre Herkunft ein, weil sie sich die eigene Wut und ihre Ausraster nicht erklären kann. Und weil sie ebenfalls fürchtet, dass bei ihr das kriminelle Erbe der Familie durchschlägt. Der zu Bukows Zeiten vor allem auch physisch intensive Rostocker „Polizeiruf“ beeindruckt jetzt durch ein psychologisch interessantes Szenario.
2 Antworten
Ich würd nicht drauf schwören, aber ich meine, dass Melly Böwes Tochter früher Tanja hieß.
Nein. Im ersten Film, in dem sie genannt wird, in „Sabine“, hieß sie Rosa. Seitdem immer Rose.