Plötzlich Türke

Oliver Konietzny, Nikola Kastner, Braak. Launiges komödiantisches „Nordlicht“

Foto: NDR / Jumping Horse Film
Foto Tilmann P. Gangloff

„Plötzlich Türke“ – Der Titel ist gleichzeitig auch Inhaltsangabe: Als sich der junge Musiker Jim, ein Deutscher mit türkischem Vater, ummelden will, stellt sich heraus, dass er im Amtscomputer als Türke geführt wird. Das ist der Auftakt zu einer Behördenodyssee, die schließlich in einen absurden Rat mündet: Um seine Staatsbürgerschaft zurückzubekommen, muss Jim erst Türke werden. Das auf einer wahren Geschichte basierende Drehbuch schlägt immer wieder unerwartete Haken, die Darsteller sind ausnahmslos überzeugend, der Humor ist sympathisch. Die Komödie wäre ohne weiteres als Freitagsfilm im „Ersten“ geeignet.

„Plötzlich fett“, „Plötzlich 70!“, „Plötzlich Opa“, „Plötzlich Onkel“: Mittlerweile gibt es so viele Komödien dieser Art, dass man von einem eigenen Subgenre sprechen kann. Und weil ein Titel immer auch ein Signal ist, rückt der NDR dieses im Rahmen der Reihe „Nordlichter“ ausgestrahlte Debüt automatisch in eine Reihe mit den Komödien, wie sie früher gern freitags im „Ersten“ und heute noch bei Sat 1 laufen. In der Regel ist der Titel bei diesen Filmen auch Inhaltsangabe; die Frage ist nur, wie abwechslungsreich die Geschichte weitererzählt wird. Das Drehbuch von Burkhardt Wunderlich, dessen Debüt das Schwangerschaftsdrama „Am Himmel der Tag“ war (Koautorinnen: Juliane Engelmann, Samia Susann Trabolsi), basiert auf einer Vorlage von Cem Fertig, der das meiste selbst erlebt hat: Eines Tages war der Sohn einer deutschen Mutter und eines türkischen Vaters kein Deutscher mehr. Was in der Umsetzung durch Isabel Braak ein wunderbarer Komödienstoff ist, war in Wirklichkeit vermutlich alles andere als lustig: Der von seiner Mutter (Nina Petri) Jim genannte Cem absolviert fortan eine Ämter-Odyssee, der ihn jedoch nicht ans Ziel, sondern an den Rand der Verzweiflung führt.

Auslöser dieses Marschs durch die bürokratischen Instanzen ist ein Computerfehler, der zutage tritt, als Jim (Oliver Konietzny) mit seiner schwangeren Freundin Jule (Nikola Kastner) zusammenziehen und sich beim Einwohnermeldeamt ummelden will. „Sie sind Türke!“ stellt die zickige Beamtin fest, schneidet seinen deutschen Personalausweis kurzerhand durch und alarmiert den Sicherheitsdienst, um den „renitenten Migranten“ entfernen zu lassen. Im Grunde wäre die Angelegenheit leicht zu regeln, aber weder Jim noch seine Hippie-Mutter Ingrid haben seine Geburtsurkunde; die muss offenbar beim Vater sein, den Jim aber nie kennengelernt hat, weil er schon früh in die Türkei zurückgekehrt ist. Also schickt ihn der zwanghaft zwinkernde Mitarbeiter (Sönke Möhring) der Einbürgerungsbehörde zur Ausländerbehörde. Weil Ingrid mitgekommen ist und gleich einen guten Draht zu der Beamtin findet, scheint sich das Problem zum Glück in Wohlgefallen aufzulösen. Dummerweise hat Ingrids Geplapper über Nachwuchs bei der ungewollt kinderlosen Frau eine alte Wunde aufgerissen; sie musste sich eine Auszeit nehmen. Ihr Vertreter ist ein dicker Mann (Heiko Pinkowski), der sich gnadenlos an die Vorschriften hält, Jim aber einen guten Rat gibt: Er soll sich beim türkischen Konsulat türkische Papiere besorgen und sich einbürgern lassen.

Plötzlich TürkeFoto: NDR / Jumping Horse Film
Auf der Suche nach der Geburtsurkunde. Jim (Oliver Konietzny), Mustafa (Vedat Erincin) und die ganze bucklige Verwandtschaft

Regisseurin Braak hätte die kafkaeske Absurdität dieser Vorgänge gern noch weiter betonen können. Stattdessen geht sie den üblichen Komödienweg und ergänzt die Amtserlebnisse Jims um weitere Widrigkeiten: Er ist Sänger in einer Rockband und mit seinen Freunden zum Vorspielen nach Liverpool eingeladen worden. Weil er deshalb dringend einen neuen Ausweis braucht, lässt er sich mit zwielichtigen Gestalten ein. Eingefädelt hat den Kontakt ein junger Mann, der in der Ausländerbehörde mit Wartemarken dealt und Jim in eine peinliche Lage bringt, als der sich beim Konsulat als Türke ausgeben will: Da er kein Türkisch kann, soll ihn die Amtsbekanntschaft per Ohrhörer mit ein paar nützlichen Redewendungen versorgen. Der Typ vertreibt sich derweil die Zeit damit, vor der Konulatstür hübschen Passantinnen türkische Anzüglichkeiten nachzurufen, die Jim prompt wiederholt, was dank der Untertitel sehr witzig ist; nur nicht für den Konsulatsmitarbeiter, der sich angesprochen fühlt. Da der Termin in Liverpool näher rückt, empfiehlt ihm der Kerl die Passfälscher, die in einer Tiefgarage residieren; Braak inszeniert den Besuch wie Orpheus’ Ausflug in die Unterwelt. Leider ist der Ausweis bei weitem nicht so beeindruckend wie der Auftritt der Ganoven; am Flughafen wird Jim prompt von der Bundespolizei verhaftet. Natürlich platzt jetzt auch der Gig, was die Band mit seinem Rauswurf quittiert. Und weil sich Filme dieser Art stets an Murphys Gesetz orientieren, hat Jule jetzt die Faxen dicke und kehrt zu ihren Eltern zurück; seinen Job bei einem Autohändler hat Jim ebenfalls verloren. Als Retter in höchster Not erweist sich ausgerechnet sein Vater Mustafa, ein gutgelaunter Lebenskünstler, der seit Jahren wieder in Hannover lebt; aber erst mal müssen die beiden sich zusammenraufen. Den hohen Preis, den Jim für seine türkische Einbürgerung zahlen muss, hat schon der Prolog verraten.

Etwas mehr Tempo und Biss hätten dem Film sicher nicht geschadet, aber auch so ist „Plötzlich Türke“ nicht zuletzt dank der vielen unerwarteten Haken, die das Drehbuch schlägt, sehenswert. Die Darsteller sind ausnahmslos überzeugend, allen voran Oliver Konietzny; die entspannte Musik aus dem Studio von German Wahnsinn passt prima, die Auftritte von Jims Band hören sich ebenfalls gut an und der Humor ist sympathisch. Dieses komödiantische  „Nordlicht“ wäre ohne weiteres als Freitagsfilm im „Ersten“ geeignet; allerdings ist sie für das formatierte ARD-Programm ein paar Minuten zu kurz. (Text-Stand: 15.10.2016)

Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.

Mehr Informationen

tittelbach.tv ist mir was wert

Mit Ihrem Beitrag sorgen Sie dafür, dass tittelbach.tv kostenfrei bleibt!

Kaufen bei

und tittelbach.tv unterstützen!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Fernsehfilm

NDR

Mit Oliver Konietzny, Nikola Kastner, Vedat Erincin, Nina Petri, Maike Bollow, Joachim Kappl, Burak Yigit, Yasar Cetin, Heiko Pinkowski, Yared Dibaba, Ernest Allan Hausmann

Kamera: Moritz Reinecke

Szenenbild: Guido Amin Fahim

Kostüm: Elisabeth Kesten

Schnitt: Geraldine Sulima

Musik: German Wahnsinn, Mary Jane Killed The Cat

Produktionsfirma: Jumping Horse Film

Drehbuch: Burkhardt Wunderlich, Juliane Engelmann, Samia Susann Trabolsi – Vorlage: Cem Fertig

Regie: Isabel Braak

EA: 10.11.2016 22:00 Uhr | NDR

Spenden über:

IBAN: DE59 3804 0007 0129 9403 00
BIC: COBADEFFXXX

Kontoinhaber: Rainer Tittelbach