Nele (Maïmouna Mbacké) ist für ihre elf Jahre ein sehr vernünftiges Mädchen; umso weniger kann sie verstehen, weshalb Steffi (Anja Kling), ihre Oma, sie nirgends allein hingehen lässt. Neles Mutter sei auf Weltreise. Acht Jahre? So langsam glaubt das Mädchen diese Geschichte nicht mehr. Als Nele in Steffis Lieblingsserie Ani Kraus (Franziska Wulf) entdeckt und ein Porträt von ihr in einer Programmzeitschrift liest, passt für sie plötzlich alles zusammen. Auch die Hauptdarstellerin von „Immer mit Euch“ ist 31, auch sie war auf Weltreise und das Wichtigste: Sie sieht der Mutter verdammt ähnlich. Unter Berücksichtigung, dass man sich in acht Jahren äußerlich verändert, kann das für Nele nur heißen: Ani ist ihre Mutter. Und so macht sich das Mädchen allein und ohne Handy von Köln nach Hamburg auf und schleicht sich als Komparsin an das Set der Serie. Dort hat Ani gerade erst erfahren, dass sie in der nächsten Staffel nicht mehr dabei ist. Sie gibt zwar noch freundlich Autogramme, ist aber ziemlich durch den Wind. Als sie sich auch noch eine Platzwunde am Kopf zuzieht, nutzt Nele die Situation für sich – und findet bei Ani Gehör. Derweil hat sich Steffi auch auf den Weg nach Hamburg gemacht. Allerdings ist sie so konfus, dass sie mit der Bahn nicht weit kommt. Also muss sie trampen. Dabei lernt sie den gutmütigen Fernfahrer Ibo (Sahin Eryilmaz) kennen. Auch dem ist ein lieber Mensch abhandengekommen …
Foto: Degeto / Christine Schroeder
In den ersten Minuten des Fernsehfilms „Per Anhalter zur Ostsee“ geht es einem als Zuschauer ähnlich wie dem Mädchen. Man versteht diese fast schon krankhafte Übervorsicht der Großmutter nicht, ahnt aber, dass es mit dieser permanenten Ängstlichkeit eine spezielle Bewandtnis haben muss. „Weltreise“ ist die Version für Nele. In Wahrheit aber wird deren Mutter seit acht Jahren vermisst. Das wird zwar erst zur Halbzeit offen ausgesprochen, kann jedoch verraten werden, da früh klar wird, dass Ani nicht die Mutter von Nele sein kann. Außerdem deutet das ernste und sehr überzeugende Spiel von Anja Kling darauf hin, dass es kein simples Alles-wird-gut-Ende geben wird, bei dem dann auch noch die Vermisste wie Kai aus der Kiste springt. Durch das Motiv der Vermissung erscheint Steffis Verhalten auf einmal plausibel. Nachhaltig ausgespielt wird dies dadurch, dass ihr auf der Reise ein Mensch begegnet, der eine ähnliche Verlusterfahrung gemacht hat. Dies ist ein schöner Kontrapunkt zu der vermeintlichen Tochter-trifft-Mutter-Situation in Hamburg, bei der auch noch ein Polizist (Bernhard Conrad), bei dem man sich zwischenzeitlich fragt, ob er echt ist oder zum Serien-Ensemble gehört, eine sympathische Rolle spielen wird. Es ist wunderbar, wie Sahin Eryilmaz und Kling harmonieren. Ihre Charaktere, zwei verletzte Seelen (aus denen nicht plump zwei einsame Herzen werden), nachts, auf der Autobahn, sie kommt endlich zur Ruhe, schläft, und er schaut sie nur an. Ein kleiner Moment, in dem sich das Besondere dieses Films und seiner Dramaturgie spiegelt: Der Reiz der Geschichte entspringt weniger dem Plot als vielmehr den Charakteren – und den Stimmungen, in denen sie sich befinden. Dass sich zwei gefunden haben, das gilt auch für Franziska Wulf und Maïmouna Mbacké und deren Figuren, mit denen es das Schicksal nicht nur gut meint; im Zweifelsfalle hilft ein Schmunzeln.
Der Tonlagenwechsel trägt wesentlich zur Unterhaltsamkeit dieses ARD-Freitagsfilms bei – und auch filmisch gelingt der Drahtseilakt zwischen ernstem Spiel und lockerer Rollenaneignung, zwischen Drama und Dramödie, zwischen Kind und Erwachsenen. Nicht zuletzt durch die aufgeweckte, lebendige Nele, die weder für rührselige noch für allzu naseweise Kindermund-tut-Wahrheit-kund-Momente herhalten muss, findet das Prinzip Hoffnung Eingang in die Geschichte. Durch die charakterzentrierte Dramaturgie mit den kleinen, feinen Details, die Gefühle und (Zwischen-)Menschliches ansprechen, stößt einem als Betrachter die Methode der narrativen Spiegelung nicht unangenehm auf: Verlusterfahrungen so weit die Handlung reicht – Mutter/Tochter weg, Enkelin (vorübergehend) weg, Ibos Liebste weg. Anis Job ist auch noch weg; aber dies ist vergleichsweise zu verkraften, verglichen mit ihrer unzuverlässigen Mutter, eine Trinkerin, die sich um „Annegret“ einst kaum gekümmert hat und deren Sorge es heute nur ist, dass sie von ihr den monatlichen Scheck bekommt. Im Schlussdrittel geht es von Hamburg noch an die Ostsee, dorthin, wo es das letzte Lebenszeichen der Vermissten gab. Auf dem Weg dorthin besuchen Steffi & Co Anis alkoholkranke Mutter. Eine kurze, beeindruckende Szene, die alle Beteiligten sprachlos macht, und die das Character-Driven-Prinzip des Films feiert, auch schauspielerisch. Immer wieder sind es die Nebensachen, die zu Hauptsachen werden. Das geht bis in ganz beiläufige Situationen hinein. Wenn beispielsweise Ibo Steffi einen Tee anbietet, in dessen Wasser eben noch eine Bockwurst schwamm. Sie bleibt höflich und trinkt zwei Schlucke. Sie hat größere Probleme. Wenig später verzichtet sie auf den Tee und meint: „Dann nehm‘ ich lieber gleich ein Würstchen.“ Schön auch, wie die Deutsche Bahn mit am Plot beteiligt ist: Eine Toilette nach der anderen ist defekt – und damit Steffis Chaos perfekt.
Foto: Degeto / Christine Schroeder
Tochter verloren, dafür neue Freunde gewonnen – und doch kann das tragische Moment, das diese Geschichte besitzt, am Ende nicht im Handumdrehen weggewischt werden. Dafür sind die Schauspieler einfach zu glaubwürdig. Dafür ist aber auch das Drehbuch von Kathi Liers („Neufeld, mitkommen!“) zu ernsthaft & zu dicht und die Inszenierung von Süheyla Schwenk („Habibi Baba Boom“), der Wechsel zwischen den beiden Handlungssträngen, zu fein akzentuiert. Schade, dass es für solche intelligenteren Filme offensichtlich am Freitag keine Sendeplätze mehr gibt; produziert werden fast nur noch Reihen. Dass man „Per Anhalter zur Ostsee“ im August sendet, wie zwei weitere vorzügliche Filme auf diesem Sendeplatz, „Trapps Sommer“ (8.8.) und „Auf der Walz“ (15.8.), ist weniger gravierend, weil die Filme ein Jahr in der Mediathek zu sehen sind. Fatal wäre es jedoch, wenn man bei der ARD die zu erwartende niedrige Einschaltquote als Argument dafür verwenden würde, solche Einzelstücke für den Freitag nicht mehr zu produzieren.

