„Was wäre, wenn…?“ ist eine Zauberformel, die seit Jahrtausenden die Fantasie der Menschen beflügelt: Was wäre, wenn die hellen Punkte am Firmament keine Löcher im Himmel, sondern ferne Gestirne wären? Wenn der Mensch Raketen bauen und zum Mond fliegen könnte? Oder wenn es nicht bloß ein Universum, sondern viele parallel existierende Alternativen zu unserer Realität geben würde? Mit den Superheldencomics hat das Multiversum Einzug in die Popkultur gehalten, aber tatsächlich haben sich schon antike Philosophen über diese Theorie den Kopf zerbrochen. Es ist also nicht unplausibel, dass Ariadne, die einst Theseus mit einem Wollknäuel zur Flucht aus dem kretischen Labyrinth verhalf, für den bunten Faden dieser spektakulär abwechslungs- und einfallsreichen Geschichte sorgt.
Foto: Paramount+ / Krzysztof Wiktor
Dabei ist der Handlungskern von „Parallel Me“ im Grunde ganz einfach. Karrierefrau Antonia, zumeist bloß Toni genannt (Malaya Stern Takeda), hadert nach einem völlig verkorksten Silvesterabend, an dem sie erst ihren Job, dann ihre beste Freundin und schließlich ihre Zuflucht in der elterlichen Wohnung verloren hat, wieder mal mit ihrem von Burnout bedrohten Dasein. Aus heiterem Himmel macht ihr die Viertelgöttin Ariadne (Maria Schrader) ein unwiderstehliches Angebot: Mit Hilfe eines Schals kann sie ausprobieren, wie sich die Dinge entwickelt hätten, wenn sie an den Gabelungen ihres Lebenswegs anders abgebogen wäre. Was Toni zunächst nicht ahnt: Ihre Reisen führen sie nicht in die Vergangenheit. Sie bleibt in der Gegenwart und plumpst ohne jede Vorbereitung in die alternativen Realitäten. Unter anderem landet sie vor Tausenden von Fans auf einer Bühne in Bangkok: In diesem Dasein hat sie sich einst dem elterlichen Wunsch widersetzt und nicht Jura studiert, sondern eine Popakademie besucht. Nun ist sie berühmt, wenn auch nur in Thailand.
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Weil sich der Star-Status als viel zu anstrengend entpuppt, zieht sie am nächsten Faden, und so funktioniert auch das Muster der Serie: Jede neue Alternative birgt ihre Tücken, nirgendwo ist Toni wirklich glücklich, weder als Surf- und Segellehrerin mit Freundin Bea (Larissa Sirah Herden) auf Bali noch in der Ehe mit Jugendliebe Jonas (David Kross) und erst recht nicht in der Beziehung mit einem Türsteher, der sich zudem als Dealer entpuppt. Was sie auch nicht ahnt: Ihre Versuche, die jeweilige Realität nach ihren Vorstellungen zu beeinflussen, haben erhebliche Folgen, denn wenn sie in die nächste Parallelwelt zieht, müssen ihre Alter Egos mit dem Unheil, das sie angerichtet hat, weiterleben.
Für die multilinguale Malaya Stern Takeda ist das eine Traumrolle. Sie darf nicht nur in ständig wechselnden Kostümen und mit immer wieder neuen Frisuren so viele Facetten der Hauptfigur spielen, sondern auch singen und tanzen. Tonis häufige Missgeschicke verkörpert sie in bester Clown-Tradition. Entscheidender ist jedoch, wie mitreißend glaubwürdig sie die emotionale Achterbahnfahrt vermittelt. Zu den vier zentralen Rollen zählen auch die Eltern (Caroline Peters, Ulrich Noethen), die sich in den unterschiedlichen Realitäten zum Teil ebenfalls wandeln. Tonis emotionale Anker sind allerdings Jonas und Bea. Mal hat sie eine Beziehung mit ihm, mal mit ihr; daher ist es umso tragischer, dass sie ausgerechnet diese beiden Herzensmenschen regelmäßig enttäuscht. Ihre ultimative Erfüllung findet sie ohnehin nicht, auch nicht hochschwanger in Beas Heimat Kolumbien.
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Abgesehen von der Ideenvielfalt des Drehbuchteams rund um Chefautorin Jana Burbach imponiert die achtteilige Serie zudem durch einen Produktionswert, von dem selbst großzügig budgetierte Kinofilme hierzulande nur träumen können, und das nicht allein wegen der verschiedenen internationalen Schauplätze; auch der personelle Aufwand ist enorm, von den Herausforderungen an Kostüm- und Szenenbild ganz zu schweigen. Regisseur Felix Binder, der fünf der acht Folgen inszeniert hat, sowie Vanessa Jopp und Sebastian Sorger haben bei den einzelnen Folgen je nach Thema und Umgebung neben dem Look auch Tempo und Tonfall variiert: Während die von Glitzer, Glamour und Luxus geprägte Bangkok-Episode überwiegend nachts spielt und mitunter hektisch ist, sind die sonnigen Szenen auf Bali pures Fernwehfernsehen. Eine andere Episode ist dagegen tiefenentspannt: Hier leitet Toni eine Alpaka-Therapiefarm. In den letzten Folgen wandelt sich „Parallel Me“ inklusive eines Todesfalls mehr und mehr zum Familiendrama, wobei der krönende Abschluss noch einige Knüller bereithält.
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Soundtrack: Billie Eilish („What Was I Made for?“), Philippa Kinsky und Dasmo & Mania („Parallel Me”), Fay Wildhagen („Coming Home”), Malaya Stern Takeda und Dasmo & Mania („Keiner wie wir”, „Wie ein Schmetterling”), Johann Strauss („An der schönen blauen Donau”, Architecture in Helsinki („Escapee“), Casual („Connection“) Stone River („Rebellion in Red River”), Dasmo & Mania („Somewhere To Call Home”)
Gewisse Überschneidungen mit dem ganz ähnlich konzipierten Hollywood-Film „Everything Everywhere All at Once“ (2022) lassen sich nicht leugnen, aber wenn überhaupt, dann hat sich Jana Burbach eher durch den modernen Zeitschleifenklassiker „Und täglich grüßt das Murmeltier“ (1993) inspirieren lassen: Toni muss mehrere Stadien durchleben, um zu ihrer Identität zu finden. Im Grunde erzählt „Parallel Me“ eine typische Adoleszenzgeschichte, wenn auch über eine Endzwanzigerin.