„Wirst du mich immer noch brauchen, wenn ich 64 bin?“, singen die Beatles in ihrem Lied „When I’m Sixty-Four“ (1967), und das kann schneller gehen, als einem lieb ist – jedenfalls in der Welt, in der dieser außergewöhnliche Netflix-Film spielt: In der nahen Zukunft von „Paradise“ ist Lebenszeit zur Ware geworden. Jungen Menschen wird die Erfüllung all’ ihrer materiellen Träume versprochen, wenn sie DNS-kompatible Empfänger mit einer größeren Anzahl an Jahren beglücken. Die Handlung beginnt mit einem entsprechenden Verkaufsgespräch in einem Flüchtlingslager: Max (Kostja Ullmann) bietet einem jungen Mann 700.000 Euro für 15 Jahre. Die Familie wäre auf einen Schlag aller Sorgen ledig; die Staatsbürgerschaft gäb’s obendrein. Kurz drauf wird Max zum „Donation Manager“ des Jahres gekürt. Er ist der Star-Verkäufer des Aeon-Konzerns, dessen Gründerin Sophie Theissen (Iris Berben) die Methode einst entwickelt hat; das Unternehmen macht Umsätze in Milliardenhöhe. Wie nahezu alle großen Errungenschaften der Menschheitsgeschichte hat auch diese jedoch ihre Schattenseiten. Als Sicherheit für einen Kredit kann man seine zukünftigen Lebensjahre einbringen. Kommt es zur Zwangsvollstreckung, folgt ein böses Erwachen: Wer einen Teil seiner Lebenszeit abgibt, altert quasi über Nacht; und dieses Schicksal ereilt ausgerechnet Max’ Lebensgefährtin Elena (Marlene Tanczik).
Foto: Netflix
Neben der originellen Handlung führt der 120 Minuten lange fesselnde Film vor Augen, über welche Möglichkeiten Netflix verfügt: Im Grunde ist das ein Kinostoff. Ein Fernsehsender hätte sich bei der Umsetzung des Drehbuchs, wenn überhaupt, mit moderaten Andeutungen der Welt von Morgen begnügen müssen, aber Regisseur Boris Kunz und Kameramann Christian Stangassinger kleiden die Handlung in Bilder, die vermutlich auch auf einer Leinwand funktionieren würden. Seine besondere Faszination verdankt „Paradise“ jedoch dem Drehbuch, das Kunz gemeinsam mit Peter Kocyla und dem Produzenten Simon Amberger geschrieben hat: Sophie Theissen gilt als Menschenfreundin, sie fördert mit den Gewinnen des Unternehmens Stiftungen und unterstützt philanthropische Projekte. Tatsächlich ist die Vorstellung verführerisch: Welche Werke, fragt die Wissenschaftlerin im Rahmen einer Ansprache, hätte Mozart wohl noch geschaffen, wenn er nicht schon mit 35 Jahren gestorben wäre? Nutznießer der Lebensspenden sind daher unter anderem Männer und Frauen, die mit dem Nobelpreis geehrt worden sind, aber ihre Freude über die neue Jugend währt nur kurz: Sie werden allesamt von einem Mitglied der Untergrundorganisation „Adam“ ermordet.
Erwartungsgemäß landet auch Max bei seiner Antiheldenreisen irgendwann bei der Terrorgruppe: Um die Hypothek für ihre teure Wohnung in Berlins bester Gegend abzusichern, hat Elena buchstäblich ihr Leben eingesetzt. Als ein Brand ausbricht und die Versicherung wegen Fahrlässigkeit nicht zahlen will, muss Elena ihre Schulden in Form von 38 Lebensjahren tilgen; plötzlich findet Max seine Arbeit trotz einer Beförderung gar nicht mehr so toll. Kurzerhand entführt er eine junge Frau (Lisa-Marie Koroll), die er für die verjüngte Konzernchefin hält, aber das Mädchen ist Theissens Tochter Marie und entpuppt sich als idealistische Kritikerin des Konzerns. Trotzdem will Max ihre Jugend nutzen, um Elena mit Hilfe eines dubiosen Billigangebots in Litauen die verlorenen Jahre zurückzugeben; seine Chefin schickt ihre Privatarmee, um Marie zu befreien.
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Die Anmutung ist durchweg sehr stimmig: hier das helle, freundliche Berlin der Bessergestellten, dort die Kehrseite, als Max und Ellen ihr modernes Apartment gegen eine Absteige tauschen müssen; die Flüchtlinge hausen in einer riesigen Containersiedlung. Das aus der EU ausgetretene Litauen ist eine Art heruntergekommenes Niemandsland, die Szenen dort spielen überwiegend bei Nacht und Nebel. Der spezielle Reiz von „Paradise“ liegt nicht zuletzt in der Genrevielfalt: Der Film beginnt als Science-Fiction, wandelt sich zum Drama und wird schließlich zum Thriller. Darüber hinaus geht es nicht zuletzt um ethisch-moralische Aspekte. Auch diese Form von Fortschritt funktioniert nach dem Prinzip des Kapitalismus: Die einen geben, die anderen nehmen. Überdies bleibt die Frage, ob Sophie Theissen wirklich die Philanthropin ist, die sie zu sein vorgibt, weshalb die Geschichte auch Krimi-Elemente enthält. Am Schluss kommt es beim Aufeinandertreffen der von Theissens Bodyguard (Lorna Ishema) angeführten Privatarmee und den Mitgliedern von „Adam“ zu einem zünftigen Geballer mit einigen fetten Explosionen; Action hat Kunz ebenfalls drauf. Die sehr präsente elektronische Musik (David Reichelt) sorgt jederzeit für die passende Untermalung.
Das komplexe Drehbuch enthält neben einigen echten Überraschungen Elemente aus Michael Endes Roman „Momo“ und erinnert von Ferne an Damir Lukacevics Science-Fiction-Drama „Transfer“ (2010), in dem ein Bewusstsein in einen Wirtskörper transferiert werden kann; reichen alten Menschen bietet sich auf diese Weise die Chance ewiger Jugend. Nebenbei lässt das Autorentrio zudem Aspekte wie den gestoppten Klimawandel einfließen. Eindrucksvoll ist auch die Arbeit des Regisseurs mit dem Ensemble. Kostja Ullmann verkörpert den Wandel vom selbstbewussten Verkäufer zum gewaltbereiten Systemkritiker ohnehin glaubhaft, aber die womöglich eindrucksvollere Leistung bietet die zweite Frau an seiner Seite: Kunz hat Marlene Tanzcik das stundenlange Ausharren in der Maske erspart und Elenas älteres Alter Ego mit Corinna Kirchhoff besetzt, die somit nicht nur ihre Rolle, sondern auch die junge Kollegin formidabel verkörpert. Kunz hat vor einigen Jahren mit der bissigen Serie „Hindafing“ (2017/19, BR) auf sich aufmerksam gemacht und später unter anderem „Breaking Even“ (ZDFneo, 2020, ebenfalls mit Ishema) gedreht. Seine letzte Arbeit war „Dreams“ (2021), ein nicht minder sehenswerter BR-„Tatort“. Produktionsfirma war jeweils Neuesuper, von der auch die sehenswerten Serien „Katakomben“ (Joyn) oder „8 Tage“ (Sky) stammen.