Der erste Kopf erreicht Ubbo Heide (Kai Maertens) per Post. Schon da müsste dem Ex-Ermittler ein Licht aufgehen. Vielleicht war die Idee zu dem Buch „Ein Kripochef erinnert sich“ nicht ganz so brillant. Wie viele andere ist der verrentete Beamte von Aurich auf den True-Crime-Zug aufgesprungen. Seitdem muss er mit Autogrammjägern (Gastauftritt: Klaus-Peter Wolf) und Trittbrettfahrern leben. Der unangenehmste ist einer, der Heides ungelöste Fälle selbst in die Hand nimmt. Auch die entführte Svenja Moers hat der Mann in seiner Gewalt. Mit der Kamerafahrt auf ein Kamerastativ beginnen mehrere Einschübe, die Moers durch die „Augen“ ihres Kidnappers in der Gefangenschaft eines kargen Kellerraums zeigen. Dramaturgisch dienen sie dazu, ihr und uns durch die verstellte Stimme des selbsternannten Rächers dessen Motiv zu erklären: In einer ungerechten Welt wird er für gerechte Strafen sorgen. Ubbo Heide formuliert in seiner Krimi-Lesung derweil seinen Ansatz: „Ein gerechtes Ziel lässt sich nicht mit ungerechten Mitteln erreichen.“ Damit ist das einfachste aller Krimi-Prinzipien als Grundlage des Ostfriesenschwurs geklärt: Gut gegen Böse.
Unter kommissarischer Leitung eines Kripo-Urgesteins (Wolf Bachofner) aus Bremen sitzt die vertraute Ostfriesen-Crew am Tisch: Der verständige Kommissar Frank Weller (Christian Erdmann), die robuste Sekretärin (Marie Schöneburg), der unzuverlässige Rupert (Barnaby Metschurat) und die stille Analytikerin Ann Kathrin Klaasen (Picco von Groote). Klaasen nimmt die Botschaften des Entführers auseinander und setzt sie zum Täterprofil eines Mörders zusammen. Die Ermittlungen konzentrieren sich fortan auf die drei auffälligsten Besucher von Ubbo Heides Krimilesung und finden hauptsächlich im Dezernat statt. Das geht dann meistens so: A spricht zu B, wendet sich zu C, D geht vorbei, C kommentiert und B zieht einen Schluss. Am Ende geben zwei ältere Herren in Strickjacken die Handlungsanweisung für Einsatz, Beschattung oder Zugriff. Dass der Fall in diesen Passagen gefährlich nah an den Rentnercops entlangschrammt, liegt wohl daran, dass Klaus-Peter Wolf auf seine Leser und Leserinnen hört. Weil die „ihren“ Ubbo Heide nach dessen Ausscheiden schmerzlich vermissten, gönnte Wolf der beliebten Figur in Band 10 noch einmal die Hauptrolle.
Regisseur Stephan Lacant („Freier Fall“, „Toter Winkel“, „Schlafende Hunde 2022) hält sich an die inhaltlichen Vorgaben. In den Vorgängerfällen etablierte Gegebenheiten wie die Tatsache, dass Klaasen und Kollege Weller inzwischen verheiratet sind, kommen kaum zur Sprache oder ins Bild. Den besonderen Charakter von Ermittlerin Klaasen bringt Lacant in einigen, überzeugend bedrohlichen Szenen zum Ausdruck. Da steht Klaasen am Hauseingang eines Verdächtigen vor undurchsichtigen Butzenscheiben, die ihr keinen Blick auf das Innere des Hauses erlauben. Von innen dagegen ist die Sicht klar. Wie in einem Gitter gefangen steht Klaasen schutzlos sichtbar vor der Tür. Ein Bild erklärt das Ungleichgewicht zwischen Ermittlerin und Gegenüber. Auch das folgende Gespräch der beiden verrät mehr im visuellen Subtext als in gesprochenen Worten. Die Kamera tastet sich näher an Klaasens Gesicht und zeigt im Gegenschnitt unvermittelt einen gequält jammernden Mann, wo der in Wirklichkeit nur merkwürdig lang in seiner Kaffeetasse rührt. Die Szene ist ein Wiederschein jener übersinnlichen Ebene, die Klaasen in den ersten Episoden ein Alleinstellungsmerkmal verliehen. Nur einmal eingesetzt wirkt die Halluzination allerdings eher irritierend – besonders auf Zuschauer, die die früheren Ostfriesenfälle nicht kennen.
Für sie bleibt die Hallu ein „fremder“ Moment, der aus der sonst eher behäbigen Erzählweise ebenso herausfällt wie die vergleichsweisen schockierenden Ansichten auf abgetrennte Köpfe oder blutverschmierte Tatorte. Leider kitzeln die brutalen Hinterlassenschaften des Täters auch die Protagonisten nicht wach. Von Groote und Erdmann wirken oft unbeteiligt, behalten die Hände in den Taschen und den ratlosen Blick im Gesicht. Weil es an verwertbaren Spuren fehlt, muss man der sonst so akribisch kombinierenden Ermittlerin dann einfach glauben, wenn sie ein dahingesagtes „manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht“ auf den richtigen Weg führt. Der endet in einem bombigen SEK-Einsatz im Hafen-Café und einer Insel-Rettung in letzter Sekunde. Auch wenn damit Drama und Action einziehen – nach einer guten Stunde rettet das den Zuschauer kaum noch aus der Lethargie. So bleibt „Ostfriesenschwur“ doch eher friesisch als herb. (Text-Stand: 21.1.2024)