Im Juli 2034 ist der Internationale Strafgerichtshof nach Berlin-Tegel umgezogen, denn nach der dritten Sturmflut in Folge musste das Gebäude in Den Haag geräumt werden, heißt es in den Nachrichtensendungen, die unter anderem von einem leicht ergrauten Ingo Zamperoni moderiert werden. Die Verhandlung ist in einem großräumigen, in unschuldigem Weiß gehaltenen provisorischen Gerichtssaal anberaumt, der an ein überdimensioniertes Iglu erinnert. Wenn mal Verhandlungspause ist und die Figuren vor die Tür treten, stehen sie im gleißenden Licht eines Hitzesommers. Nachrichtenbilder verbinden das Tribunal mit der Welt außerhalb. Gleich am ersten Tag wird ein gewaltiger Zyklon heraufbeschworen (aber nicht weiter verfolgt). Am dritten Tag berichten die Sender plötzlich von großflächigen Waldbränden in Ostdeutschland, und die wenigen Rinder, die einem Agrarökonom geblieben sind, sieht man verendet, verbrannt oder von dem Mann eigenhändig erschossen.
Foto: RBB / Julia Terjung
Zwei Tage zuvor war dieser Brandenburger Landwirt (Hans-Jochen Wagner) noch der erste, der in den Zeugenstand gerufen wurde – von der Verteidigung, wohl mit der Botschaft: Wir in Deutschland leiden auch unter dem Klimawandel, da muss sich die Regierung erst mal um die eigenen Leute kümmern. Die Bundesrepublik Deutschland wird von Anwalt Victor Graf (Ulrich Tukur) vertreten, auch die ehemalige Kanzlerin Angela Merkel (betont zurückhaltend: Martina Eitner-Acheampong) ist teilweise anwesend, wird befragt und ergreift am Ende das Wort zu einer Art Bewerbungsrede für das Amt als UN-Generalsekretärin. Der Platz von Gerhard Schröder dagegen bleibt frei. Drehbuchautor Andres Veiel und Co-Autorin Jutta Doberstein erlauben sich den kleinen Scherz, dass Anwalt Graf den Altkanzler (und Putin-Freund) mit der Begründung entschuldigt, er befinde sich wegen seiner schlechten gesundheitlichen Verfassung zur Behandlung in Russland.
„Ausgangspunkt waren die hohen Gewinne der Grünen nach den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, dann auch in Bayern. Es war nicht mehr zu übersehen, dass die Fragen um Klimawandel und die leidenschaftlich geführte Diskussion um Missachtung der Grenzwerte in der Mitte der Gesellschaft angekommen waren. Was zunächst eine dokumentarische Serie werden sollte, geriet mehr und mehr unter den Druck der sich zuspitzenden Klima-Debatte, Fridays-for-Future-Bewegung und realen Klimakatastrophen überall auf der Welt. Die brennende Aktualität und der Umstand, dass die Finanzierung und Herstellung eines Filmprojekts Zeit brauchen, zwangen uns regelrecht dazu, die Handlung vorausschauend in die Zukunft zu legen.“ (Thomas Kufus, Produzent)
Stellvertretend für die 31 Staaten „des globalen Südens“, die Deutschland verklagen, sind gerade mal drei Personen im Saal, und nur Sulab Makan (Utsav Agrawal), Anwalt aus Bangladesch, darf im Zeugenstand auf die Folgen von Überschwemmungen und Waldrodungen aufmerksam machen – Rodungen, die zum Zweck des Baus von Kohlekraftwerken geschahen, die mit Mitteln der deutschen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) finanziert worden seien. Solche konkreten Beispiele hätte es noch mehr geben sollen. Die 14 Jahre entfernte Zukunft muss dagegen nicht übertrieben visionär aussehen, es genügen vergleichsweise simple Details wie der Mikrofon-Knopf am Hals. Dennoch wirkt die Inszenierung insgesamt etwas dünn ausgestattet, gemessen an dem zu Beginn formulierten Anspruch, das Verfahren sei „eines der bedeutendsten in der Justizgeschichte“ (Zamperoni). Fairerweise sei darauf hingewiesen, dass „Ökozid“ zu den ersten Filmprojekten gehörte, die nach dem Corona-Lockdown im Frühjahr 2020 wieder möglich wurden. Und die Mittel, die die Sender für die Produktion von Fernsehfilmen zur Verfügung stellen, sind ohnehin nicht vergleichbar mit den zum Teil aufwändig gestalteten Serien, die zurzeit den Markt fluten.
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Zurück zu „Ökozid“: Die 31 Staaten werden von zwei Anwältinnen vertreten, deren unterschiedliche Rollen nicht schwer zu erraten sind. Larissa Meybach ist die junge, aufbrausende Juristin, die schon als Jugendliche gegen die Kohle demonstriert hat. Friederike Becht spielt sie leider arg plakativ. Ihre Chefin ist die erfahrene Anwältin Wiebke Kastager (Nina Kunzendorf), die schon bald hinter dem Rücken ihrer Kollegin mit ihrem alten Bekannten Victor Graf über einen Vergleich verhandeln wird. Den Vorsitzenden Richter Hans-Walter Klein aus der Schweiz gibt Edgar Selge, der die Anklage zu Beginn vorstellt und der im Verlauf des Verfahrens Fragen stellt, Sachverhalte zusammenfasst und immer mal wieder Graf und Meybach zur Ordnung ruft – eine von Selge nachdenklich und sympathisch gespielte neutrale Instanz. Auf der Richterbank nimmt außerdem mit drei weiteren Frauen und einem Mann eine diverse, internationale Runde Platz, wobei nur die US-amerikanische Schauspielerin Robin Gooch eine Sprechrolle als Richterin hat. Im Hintergrund steuert „Social Media Operator“ Laurenz Opalka (Sven Schelker) eine Kampagne, die offenbar das Ziel hat, die allgemeine Stimmung aufzuheizen, damit das Gericht unter dem öffentlichen Druck die Klage abweist. Dazu kommuniziert er im Netz mit einer anonymen „Tonya“, ein Hinweis auf die bereits gegenwärtigen Versuche der Meinungs-Manipulation durch (russische) Troll-Armeen. Damit kommt eine spannende zweite Ebene ins Spiel, auch wenn die Figur des Operators selbst uninteressant bleibt.
„Die Komplexität des Klimawandels für einen Film dieser Länge in einer stringenten Erzählung aufzubereiten wurde möglich durch eine Doktorarbeit, die den Einfluss deutscher Lobbyisten auf die Einführung des Emissionshandels untersucht. Die Arbeit beschreibt anhand einer akribischen Faktenrecherche, wie die Industrie bei der Einführung des Emissionshandels in enger Kooperation mit der Bundesregierung Klimaschutzmaßnahmen abschwächte oder ganz verhinderte.“ (Jutta Doberstein, Ko-Autorin)
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Als kritisches Lehrstück zur deutschen Klimapolitik ist „Ökozid“ zweifellos sehenswert. Vor dem Tribunal werden „Sachverständige“ aus Politik, Wirtschaft, der EU-Kommission und von Umweltverbänden befragt. Es wird aus Briefen und Dokumenten zitiert, es werden Filmausschnitte gezeigt – beginnend mit einem Statement der damaligen Bundesumweltministerin Angela Merkel, die 1997 die in Kyoto beschlossene Absenkung der Treibhausgase erst ab 2012 als „unbefriedigend“ bezeichnet hatte. Später sollte sie als Kanzlerin jedoch ebenso wie zuvor Gerhard Schröder weitergehende EU-Beschlüsse aus Rücksicht auf Automobilindustrie und Energiekonzerne verhindern. Der vermeintliche Klima-Musterknabe Deutschland wird hier ein Stück weit entzaubert, zugleich kommen Lobbyismus und die Verflechtungen von Politik und Wirtschaft zur Sprache. Wobei die Quelle mancher Zahl oder Statistik unklar bleibt und es im Zusammenhang mit dem Thema Braunkohle nicht passt, Bilder von einem Besuch Schröders in Ibbenbüren zu zeigen, denn dort wurde bis 2018 Steinkohle gefördert. Es werden viele Zahlen, Zitate und Fakten präsentiert, doch es gibt nur wenige wirklich packenden Kreuzverhöre und Dialoge. Am lebendigsten gerät noch die Diskussion über SUVs und die Kohlendioxid-Grenzwerte für die Automobilindustrie.
Die Idee, aus der Zukunft auf den Status Quo zu blicken, ist interessant. Noch interessanter wäre es gewesen, wenn Veiel der „Beweisführung“ in einzelnen Aspekten der Klimapolitik einen spannenden, glaubwürdigen fiktionalen Rahmen gegeben hätte. Aber weder gibt es eine auch emotional berührende Geschichte im Zentrum, noch kann der Schlagabtausch der Prozessbeteiligten eine besondere Dramatik entfalten. Die Beziehungen unter den Figuren werden nur halbherzig geknüpft, die anklagende Botschaft ist zu leicht zu durchschauen, die Gegenseite trotz der überzeugend gespielten Tukurschen Arroganz zu schwach, und die spannende Grundsatzfrage, die der Richter zu Beginn aufwirft, bleibt weitgehend außen vor: Gibt es ein Recht der Natur auf Unversehrtheit? Können Staaten, abgeleitet aus dem Völkerrecht, verpflichtet werden, gegen den Klimawandel vorzugehen? Im Gegensatz etwa zu den Gerichtsdramen eines Ferdinand von Schirach („Terror“, „Gott“) führt „Ökozid“ nicht in juristisch-philosophische Tiefen, sondern in die internationale Politik, beruhend auf einem Fakten-Klein-Klein. Eine Abrechnung mit der deutschen Klimapolitik zwischen 1998 und 2020 von Andres Veiel wäre sicher lohnenswert – aber wohl doch besser als Dokumentarfilm.