Heiligabend in der Villa der großbürgerlichen Stahlbaums. Der Vater (Jürgen Tonkel) und die Mutter (Brigitte Hobmeier) sorgen für eine festliche Bescherung. Besonders die Geschenke von ihrem Onkel Drosselmeier (Anatole Taubman) versetzen Marie (Mala Emde) in helle Freude. Fasziniert von komplizierten Räderwerken, hat jener angesehene Jurist, nebenbei ein Meister des Geschichtenerzählens, der aus Liebhaberei auch noch das Uhrmacherhandwerk betreibt, der Tochter des Hauses und ihrem kleinen Bruder Fritz (Leonard Seyd) einen zauberhaften Guckkasten gebaut, in dem sich kleine Figuren zu Musik bewegen: das Zuckerland. Ein magischer Mechanismus. Und auch vom zweiten Geschenk des Onkels, einem Nussknacker, ist das Mädchen überaus angetan. Während Fritz in ihm nur eine Holzfigur sieht, erkennt Marie die Seele hinter der leblosen Oberfläche. In der kommenden Nacht wird das Mädchen zur Geisterstunde Zeugin eines seltsamen Schauspiels: der Auseinandersetzung zwischen einem grässlich gräulichen Tier in Menschengestalt, dem Mausekönig (Joel Basman), und dem zum Leben erweckten Nussknacker (Sven Gielnik), der sich wegen einer Verletzung nur schwer zu wehren weiß. Marie kann das geliebte Wesen retten. Aber das Rattengesicht will wiederkommen, den freundlichen Nussknacker zu holen.
„Nussknacker und Mausekönig“ ist entstanden nach der gleichnamigen Mystery-Erzählung von E.T.A. Hoffmann. Es ist die perfekte Weihnachtsgeschichte. Ein Märchen über ein pubertierendes Mädchen, das durch ihre Liebe und den Glauben an die Phantasie einen Fluch bannt und ein Menschenleben rettet. Die Verortung der Geschichte in einer Nachkriegszeit im 19. Jahrhundert, das Motiv des Kampfs auf Leben und Tod, das Soldatische, das Schlachtengetümmel, all das sorgt – durch den Gegenpol: das großbürgerliche Weihnachtsfest als Feier des familiären Friedens – für weitere Konnotationen. Und der Mausekönig droht nicht nur damit, den Nussknacker zu zerstören, sondern gegebenenfalls auch Marie in seine Gewalt zu bringen. Und auch klassisch psychoanalytisch liefert dieses Kunstmärchen ein wunderbares amouröses Erweckungsszenario, eine weibliche Initiation. Und so lässt sich auch die MDR/RB-Verfilmung innerhalb der ARD-Reihe „Sechs auf einen Streich“ als eine Art historisches Coming-of-age-Märchen lesen. Der Film von Frank Stoye verströmt den Flair alter Weihnachtsgeschichten à la Charles Dickens – und kurz vor dem Ende kann sich die empfindsame Heldin fühlen wie Alice im Wunderland oder Dorothy in „Zauberer von Oz“.
Dem Thema Lobpreisung der Phantasie und dem hohen Sensibilisierungsfaktor der Geschichte entspricht auch die ästhetische Umsetzung von „Nussknacker und Mausekönig“. Die Einheit von Raum, Zeit und Handlung trägt stark zur Konzentration bei, vor allem aber sind es die filmspezifischen Mittel, die der Regisseur atmosphärisch einzusetzen weiß. Die Bildgestaltung von Bernd Fischer, der zuvor im Tukur-„Tatort – Wie einst Lilly“ und besonders in „Alaska Johansson“ seine Klasse bewies, und das stimmig stimmungsvolle Szenenbild von Veronika Große und Detlef Provvedi bilden das visuelle Herzstück des Films. Das vom Lichtquellen-Realismus geprägte Spiel mit Hell/Dunkel und das Farbkonzept bzw. die Lichtdramaturgie sind meisterlich. Die Ausstattung der Räume ist opulent, aber höchst elegant und sie wirkt niemals zu schwergewichtig. Bruchlos werden die Visual Effects und Animationsbilder in den Handlungsfluss eingepasst. Und so herausragend auch die Geschichte und das Optische (sehr gelungen ist auch die Musik, vor allem im Schlussteil, wenn sie u.a. mit Tschaikowskis „Nussknacker“-Motiv Räume öffnen muss) auch sind – die Seele des Films, das sind die Schauspieler in ihren signifikanten Rollen. Anatole Taubman und Jürgen Tonkel: das ist pure Spielfreude. Brigitte Hobmeier und der junge Leonard Seyd: das ist eine große ikonografische Kraft. Joel Basman: das ist die (Mephistophelesche) Lust am Genrespiel. Sven Gielnik: das ist die (schwierige) Wandlung vom Mechanischen zum Menschlichen.
Anders als in den Großproduktionen, in deren Geschichten es häufig um Phantasie geht, deren technischen Apparate und deren Überwältigungsdramaturgien eben diese beschworene Phantasie aber ständig unterlaufen, sorgen in diesem kleinen deutschen Fernsehfilm-Märchen die szenische Reduktion, das Kammerspielhafte, das Erzählen in der Erzählung dafür, dass der Zuschauer nicht nur unmittelbar mit der Phantasie konfrontiert wird, sondern dass diese Geschichte und die Art, wie sie erzählt ist, die Phantasie beim Zuschauen beflügelt. Dass dieser sich liebend gerne einlässt auf das nächtliche Drama mit Fiebertraum-Szenario, mit Zuckerland-Erweckung und finaler Liebesoption – das hat viel mit der Hauptdarstellerin Mala Emde zu tun: Da ist zuerst bei ihr das Sichtbare, dieser entrückte, verträumte Blick, das perfekte Gesicht für Historisches (was sie in „Meine Tochter Anne Frank“ preiswürdig bewies), eine Projektionsfläche für die innere Geschichte, für das, was der Zuschauer in ihr lesen möchte. Für eine 19-Jährige und für eine solche geheimnisvolle Märchenerzählung spielt sie ungewöhnlich zurückgenommen – dabei muss sie sich doch in die verschiedensten Stimmungslagen (Alltag, Drama, Furcht & Erschrecken, Komik) einfinden. Nicht zuletzt ihre Leistung macht „Nussknacker und Mausekönig“ zu einer der besten aller ARD-Märchen-Verfilmungen und zu einem weihnachtlichen TV-Kleinod. (Text-Stand: 30.11.2015)