Acht Mal waren Tierarzt Hauke Jacobs (Hinnerk Schönemann), seine Assistentin Jule Christiansen (Marleen Lohse) und die Dorfpolizistin Lona Vogt (Henny Reents) ein unschlagbares Team. Ein liebenswerter, aber schwer zugänglicher Hamburger Ex-LKA-Mann mit dem Hang zum Eigenbrötler, eine leidenschaftliche Tierliebhaberin und eine sich unterkühlt gebende Ermittlerin, der viel Tragisches ins Familienstammbuch geschrieben wurde, erreichten von Jahr zu Jahr ein größeres Publikum (zuletzt: 6,85 Mio. Zuschauer). Mit trockenem Witz, kluger Genre-Ironie und mit skurrilen bis lakonisch bösen Nebenfiguren emanzipierten sich die Geschichten zunehmend vom gefälligen Provinzkrimi und dem anfangs vor allem auf fremdländische Schauwerte setzenden ARD-Donnerstagskrimi. Jetzt gibt es einen Einschnitt. Henny Reents steigt aus der Reihe aus, für sie sind es die letzten drei Episoden. Nimmt man es genau, dann ist sie nur noch im zweiten Film, „Ein Killer und ein Halber“, in einer der gewohnten Hauptrollen zu sehen, zum Auftakt in „Die Dinge des Lebens“ und zum Ausstand „In eigener Sache“ ist sie nur noch zu je einem Fünftel leibhaftig zu sehen, gefühlt aber dominiert sie auch diese beiden wunderbar melancholischen Episoden, die eine wahrhaftige Tiefe und filmisch zugleich eine luftig-leichte Anmutung besitzen.
In seinen Drehbüchern acht und neun für „Nord bei Nordwest“ hat der dreifache Grimme-Preisträger Holger Karsten Schmidt („Mord in Eberswalde“), der fleißigste unter den deutschen Ausnahme-Autoren, zusammen mit Niels Holle („Schuld – nach Ferdinand von Schirach“), der nach seinem schwarzhumorigen Einstand mit „Frau Irmler“ nun ein zweites Mal dabei ist, alle drei Episoden in eine sehr emotionale Grundstimmung getaucht. Vogts Abgang auf Raten bestimmt in narrativer wie ästhetischer Hinsicht die neuen Episoden der NDR/Degeto-Koproduktion. Aus einer Notlage, dem Ausstieg einer Hauptdarstellerin, ist der bisherige Höhepunkt der Reihe geworden. Eine Trilogie des Todes, die sich viel Zeit nimmt für den Abschied einer Figur und daraus für die Geschichte den größtmöglichen Nutzen zieht.
Explosiv ist der Einstieg in die Auftaktepisode „Dinge des Lebens“. In einem Boot tappt Lona Vogt in eine Falle – und plötzlich steht sie auf dem Auslöser einer Bombe. Der Zeitschalter zeigt nur noch fünf Minuten. Retter Hauke Jacobs naht und hat eine zündende Idee. Er setzt die Kajüte unter Wasser und hofft, dass die Druckwelle über ihren Kopf hinwegknallt. So die Theorie. Die Praxis sieht anders aus: Die Polizistin muss zweimal wiederbelebt werden, dann wird sie ins Wachkoma versetzt. Von nun an ist Jacobs nicht mehr nur hauptberuflich Tierarzt, der kriminalistisch aushilft, sondern offiziell Kriminalhauptkommissar mit einer halben Stelle. Die Planstelle teilt er sich mit Scherzkeks Leyendecker (Jürgen Rißmann), der außer dummen Sprüchen nichts zu bieten hat. Sieht es zunächst danach aus, als ob der Anschlag Lonas Vater (Peter Prager), BND-Agent a.D., gegolten habe, so ergibt sich aus dem zuletzt bearbeiteten Fall der Polizistin ein anderes Tatmotiv – und eine sehr spezielle Tatwaffe: Rizin. Als auf dem Hof eines Großbauern (Moritz Führmann) der Vorarbeiter diesem „perfekten“ Gift zum Opfer fällt, sieht es danach aus, als ob gleich zwei Mörder in Schwanitz ihr Unwesen treiben.
„Dinge des Lebens“ ist quasi die Vorwegnahme eines angekündigten Todes. Der Film beginnt hochspannend. In der Kajüten-Szene nimmt sich Regisseur Markus Imboden für die fünf Minuten erzählte Zeit fast ebenso viel Erzählzeit. Sie wird unter anderem gefüllt mit einem zärtlichen Moment, der die Basis für die Grundlage der folgenden 75 Filmminuten sein wird, in denen sich die aktiven, seelisch gebeutelten Helden in die Ermittlungsarbeit stürzen. Auf dem Hof mit ein paar todkranken Pferden und dem vergifteten Vorarbeiter können der Tierarzt und seine Assistentin ein und aus gehen – der reaktivierte Kommissar kann sich inkognito ein Bild machen, derweil Christiansen hier alle ausfragt. Mit Sätzen wie „Ich sollte manchmal schneller denken als sprechen“ und ihrer Art zwischen keck und kess ist das mehr als nur kriminalistische Informationsbeschaffung für den Zuschauer. „Zwei Täter, zwei Fälle“ – auch das laute Kombinieren von Jacobs besitzt stets einen amüsanten Mehrwert. Besonders intensiv sind in dieser Episode die Beziehungsszenen: am Bett der Koma-Patientin oder am Meer. In einer Szene am einsamen Strand bricht das Licht aus der Wolkendecke, während Jacobs und Jule, im Schmerz verbunden, sich unter Tränen umarmen, bevor sie nackt baden gehen.
Was den Krimi angeht, ist das Schöne an „Nord bei Nordwest“, dass die Fälle nicht zu kompliziert, das Personal sowie die Situationen überschaubar sind und somit das Ganze immer nachvollziehbar bleibt. Diesem narrativen Prinzip entspricht das Ambiente der Reihe: die Landschaft, das Meer, der Deich, die Wiesen, die Landstraßen – alles ist meist menschenleer, wer nichts zur Geschichte beiträgt, der hat nichts im Bild verloren. Das, was sich zwischen diesem attraktiven Dreieck abspielt, dürfte allerdings für viele Zuschauer den größten Reiz der Reihe ausmachen. In „Ein Killer und ein Halber“ sind alle drei wieder gleichermaßen physisch im Einsatz. Lona Vogt ist noch etwas gehandicapt, so entwischt ihr der titelgebende Killer (Niels Bormann), den sie allenfalls anschießen kann. Der hat sich zuvor mit einem präzisen Kehlschnitt eine falsche Identität verschafft und die Schwanitzer Dorsch-Woche zum Anlass genommen, im Auftrag eines Mafia-Clans einen „Verräter“ auszuschalten. Schicksalshaft kreuzt dabei der Praktikant des örtlichen Bestattungsunternehmens die Wege des Profi-Killers: Jener Matti (Leonard Carow) hat sich bisher nur an Tieren versucht, würde aber gern mal „richtig“ morden. „Ich zeig dir, wie’s geht“, sagt der Meister-Killer und will sich für die Gastfreundlichkeit des jungen Mannes bedanken. Das Opfer steht bereits vor der Tür: Jule.
„Ein Killer und ein Halber“ verspricht vor allem eines: Spannung. Gleich zwei Mal gerät die Tierarzthelferin in die Klauen des Killers. So harmlos wie die norddeutsche Ostseelandschaft vermuten lässt, war „Nord bei Nordwest“ ja noch nie, aber in den neuen drei Episoden, ganz besonders in dieser von Niels Holle geschriebenen, geht es ans Eingemachte. Ein Messer an der Kehle der Heldin. Schüsse aus Schalldämpferknarren, ein Schnitt mit dem Seziermesser, der Strand nicht nur Sehnsuchtsort, sondern auch mal zum Friedhof umfunktioniert. Das alles zielt deutlicher in Richtung des Coen-Brüder-verdächtigen Grimme-Preis-gekrönten „Mörder auf Amrum“. Der Nervenkitzel ist indes noch größer, da die Gefahr wegen der Reduktion des Personals greifbarer und die bedrohten Figuren – nicht zuletzt durch den Reihen-Charakter – dem Zuschauer sehr viel näher sind. Die Intimität wird von vornherein auch durch die Inszenierung betont. Immer wieder sind die vertrauten Personen in sehr nahen Einstellungen zu sehen. Bei Jule und ihrem Lover Timo (Lasse Myhr) findet Kameramann Uwe Neumeister darüber hinaus ähnlich markante Perspektiven wie zuvor bei einer in vielfacher Hinsicht schrägen Einstellung, in der Jacobs die operierte Fehlstellung des großen Zehs des ersten Opfers bewundert. Überhaupt besticht der Film von Nina Wolfrum durch seine exquisiten Bilder, die mal in einer stimmungsvollen, mal spannend suggestiven Montage aufgehen. Nachdem der Killer Jule durch den Wald gejagt hat und sie gestürzt ist, hat es den Anschein, als bleibe die Zeit plötzlich stehen: Stille, nach der Totalen sieht man Jules Gesicht, ein Blatt, ein Wassertropfen, ihr Auge, fast regungslos, ein Käfer – und dann ganz nah: zwei Beine. Das ist Hochspannung und gleichsam visuelle Poesie. Und dann gibt es mehrfach diese Momente, in denen zwei Personen sehr beiläufig eingefangen werden. Das wirkt realistisch, sinnlich, frisch. Durch diesen Realismus des Augen-Blicks wird die Schwere des Verhandelten (Jules Problemgespräch mit Jacobs am Hafen) angenehm relativiert. Das Ergebnis: eine zwischenmenschliche Wahrhaftigkeit, wie sie sonst in Krimis dieser Art nicht erreicht wird.
Auch im dritten Film, „In eigener Sache“, muss sich Jule einem Killer stellen: einem Serienmörder, der es auf rothaarige Frauen abgesehen hat. Zuvor aber macht Lona Vogt unliebsame Bekanntschaft mit dem machtbesessenen kleinen Mann. Eine Kollegin aus Kiel nimmt an, dass bisher vier Morde auf das Konto eines einzigen Täters gehen. Jacobs ist anfangs nicht willens, mit jener Sarah Winter (Anja Schneider) zusammenzuarbeiten. Das ändert sich, als Jule fest entschlossen ist, mit dem Täter über ein Dating-Portal Kontakt aufzunehmen. Und so bieten auch die letzten 20 Minuten dieses Donnerstagskrimis Spannung mit Thriller-Momenten und einem extrem coolen Schmidt-typischen Finale. „Der Killer ist schlauer als wir drei zusammen“, sagt die Kommissarin aus Kiel – und sie soll recht behalten. Zuschauer, die „realistische“ Krimis einfordern, werden in diesem Falle am Ende froh sein, dass es hier eine höhere Genre-Ordnung gibt (und vielleicht ihren Grundsatz überdenken). Auch für diesen Film hat der Regisseur, Felix Herzogenrath, zum dritten Mal für die Reihe im Einsatz, ausgewählte, atmosphärische Bilder gefunden. Gefühlt besitzt „In eigener Sache“ – jenseits zweier extremer Nervenkitzel-Sequenzen – mehr Totalen, also Entspannungsmomente für den Zuschauer und Ruheinseln für die Hauptfiguren, als die Episode zuvor. Außerdem gibt es magisch-surreale Elemente. Und für alle drei Filme gilt: Die tiefen, „authentischen“ Gefühle der Figuren verschmelzen mehr denn je mit den Stimmungen, die die Ostsee-Landschaft bietet, und der Atmosphäre, die durch die Filmsprache erzeugt wird. Je länger die Reihe läuft, umso besser dieses Zusammenwirken. Doch diese Trilogie eines angekündigten Todes hat darüberhinaus noch seinen ganz besonderen „Reiz“. (Text-Stand: 23.12.2019)