Nord bei Nordwest – Estonia

Schönemann, Reents, Lohse, Schmidt, Seume. Spionagethriller auf dem Lande

13.02.2025 22:00 NDR
Foto: NDR / Gordon Timpen
Foto Rainer Tittelbach

Nach dem stimmigen Auftakt „Käpt’n Hook“ und dem seltsamen Mystery-Krimi „Der wilde Sven“ hat Autor Holger Karsten Schmidt Personal und Plot von „Nord bei Nordwest“ in der dritten Episode der ARD-Donnerstagskrimi-Reihe elegant auf Kurs gebracht. „Estonia“ besticht mit einem angenehm abgespeckten Konzept & der klugen Arbeit am Detail. Auf den ersten Blick auffallend: der entspannte Erzählrhythmus, das sympathische, sich aber nicht beim Zuschauer anwanzende Personal, die Top-Besetzung, viel norddeutsche Mentalität & landschaftliche Atmosphäre. Und beim zweiten Blick lässt sich erkennen, wie beiläufig ein ironischer Unterboden geschaffen wird, wie klug und tief Emotionen erspielt werden, wie aus Ellipsen das Lakonische entsteht und dass diese Schönemann-Figur ihre eigene Art hat.

Ein Mord, der Ermordete und der Vater der Dorfpolizistin geben Rätsel auf
Zwei zwielichtige Gestalten setzen mit der Fähre auf die Halbinsel Priwall über. Einer mietet sich im Ort ein, greift sich eine Waffe und erliegt nach einem Schusswechsel wenig später seinen Verletzungen. Kurz zuvor hat der Sterbende dem Tierarzt Hauke Jacobs (Hinnerk Schönemann) ein Stück Metall zugesteckt. Schauplatz des Verbrechens ist die Senioren-Residenz Schönblick, in der sich der Vater (Peter Prager) von Dorfpolizistin Lona Vogt (Henny Reents) nach dem Tod seiner Frau eingemietet hat. Ihre Ermittlungen verstärken den Verdacht, dass der Anschlag ihm gegolten hat und dass ihr Vater kein Handlungsreisender in Sachen Sprinkleranlagen, sondern dass er im Auftrag des BND unterwegs war. Reimar Vogt streitet alles mit einem sanften Lächeln ab. Rätsel gibt auch das Opfer auf: Der, für den sich der Ermordete ausgegeben hat, ist seit Jahrzehnten tot. Wenig später steht der zweite Mann (Mark Zak) von der Fähre Jacobs mit einer Waffe gegenüber und fordert von ihm das ominöse Metallstück. Bei dem Versuch, sein Herrchen zu verteidigen, wird Jacobs Hund Holly von dem Fremden angeschossen. Während der anschließenden Not-OP mit Arzthelferin Jule (Marleen Lohse) fasst der Tierarzt, der in seinem früheren Leben Kriminalbeamter war und sich in einem Zeugenschutzprogramm befindet, den Entschluss, den Mann stellen zu wollen, der seinem Holly das angetan hat, und so lässt er sich von Lona zu dem Mordfall hinzuziehen.

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Ein Mann, der Menschen meidet, die er nicht kennt, und sich den Tieren näher und verpflichteter fühlt: Tierarzt mit Vergangenheit, Hauke Jacobs (Hinnerk Schönemann)

Komplexe Vorgeschichte, lakonische Erzählweise & ein metallener McGuffin
Nach dem stimmigen Auftakt „Käpt’n Hook“ und dem seltsamen Mystery-Krimi „Der wilde Sven“ hat Autor Holger Karsten Schmidt Personal und Plot von „Nord bei Nordwest“ in der dritten Episode der ARD-Donnerstagskrimi-Reihe elegant auf Kurs gebracht. „Estonia“ kommt mit nur vier Haupt- und vier Nebenfiguren aus. Mit diesem angenehm abgespeckten Konzept solch einen atmosphärestarken und im Schlussdrittel deutlich die Spannungsschraube anziehenden Ostsee-Krimi zu erzählen – das muss man erst mal bringen. Auch die Biographien des Tierarztes, der Dorfpolizistin und ihres Vaters werden geschickt zu Grundpfeilern des Krimiplots: Schmidt baut dabei auf eine komplexe Vorgeschichte, die so gut wie kein Wissen aus den ersten Episoden voraussetzt. Das verdichtet die Charaktere, ohne die Handlung unverständlich zu machen. Jetzt erklärt es sich auch, weshalb der Held der Geschichte trotz der beiden rothaarigen Versuchungen, vorerst wie ein Mönch leben muss. Selbst die vermeintlich abwegige Idee, einen Agententhriller auf dem Lande zu erzählen, funktioniert überraschend gut. Vielleicht liegt es an der lakonischen Erzählweise, die zu Killern und Agenten passt, die irgendwann auftauchen, emotionslos ihren Auftrag ausführen und wieder verschwinden (oder ins Gras beißen). Bei einem anderen Film mit Hinnerk Schönemann nach einem Buch von Holger Karsten Schmidt, „Mörder auf Amrum“, hat eine ähnliche Genre-Konstellation den Machern immerhin einen Grimme-Preis eingebracht. Bei dieser Spionage-Geschichte sollte man nicht alles haarklein verstehen wollen. Das Metallstück beispielsweise, zu dem sich später ein zweites gesellt, ist wohl als das zu verstehen, was Hitchcock einen McGuffin nannte: ein an sich sinnloser Gegenstand, dem allein die Aufgabe zukommt, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und die Thrillerhandlung in Gang zu setzen & zu halten.

Die Eigen-Art von Hinnerk Schönemann und der Eigen-Wille von Hauke Jacobs
Ein weiterer Faktor, der „Nord bei Nordwest – Estonia“ zu einem angenehm unaufgeregten Krimi macht, sind neben dem entspannten Erzählrhythmus das sympathische, aber sich keineswegs beim Zuschauer anwanzende Personal und dessen vorzügliche Besetzung. Nähe und Distanz halten sich geschickt die Waage. Bei Jacobs wie Lona Vogt reicht schon mal ein „moin“ als Kommunikation, während Tierliebhaberin Jule sich gern einmal um Kopf und Kragen plappert. Insgesamt aber setzt Schmidt wie immer bei seinen norddeutschen Krimis auf das Prinzip: Das Notwendige mit so wenig Worten wie möglich sagen. Das zu spielen gehört zur Eigen-Art von Hinnerk Schönemann. Was der zu spontanen Variationen neigende Schauspieler aus den Vorgaben macht, diese Ein-Wort-Kommunikation oder längere verbale Ergüsse mit Pausen, Aussetzern (weil das Chaos im Kopf der Figur die sprachlichen Möglichkeiten übersteigt?), lautem Denken, soll nie völlig abgesprochen sein. Bei den Dialogen des Ex-Bullen ist der Ausdruck oft nicht weniger wichtig als das Gesagte. Was immer mitschwingt, ist die „Mentalität“ des Mannes, der im sprachlichen Umgang mit Menschen oft verlegen, schnell verunsichert und peinlich berührt wirkt, während er beim Spazierengehen mit seinem treuen Holly oder im Kampf Faust gegen Faust sehr viel besser seinen Mann steht. Dieser Eigen-Wille seiner Figur macht mit die Qualität der Geschichte aus. Schönemanns Stil des Spiels mag mitunter den Zuschauer dazu verleiten, ähnlich gelagerte Rollen des Schauspielers auf den aktuellen Film zu übertragen. Aber keine Frage, diese Hauke Jacobs ist kein möchtegern-cooler Cop Marke Simmel (der „Marie Brand“-Reihe), kein zufällig über sich hinauswachsender Dorfpolizist wie in „Mörder auf Amrum“ und auch kein leichtlebiger Privatdetektiv wie Finn Zehender (in vier ZDF-Krimis). Dieser Typ ist nicht witzig, noch will er es sein, vielmehr besticht er durch eine trockene Art, die komisch wirken kann und die sowohl den Frauen an seiner Seite gefällt als auch den Zuschauern imponieren dürfte.

Nord bei Nordwest – EstoniaFoto: NDR / Gordon Timpen
„Wollen wir uns nicht duzen, Herr Jacobs?“ Wer steckt wohl hinter der Maske? Dass Jule (Marleen Lohse) nicht viel Alkohol verträgt, hat eine frühe Szene bereits gezeigt. Jetzt kann man deshalb ganz besonders gespannt sein, wie der Maskenball wohl enden wird.

Dialog-Gags am Rande, erspielte Gefühle und Ellipsen zum Schmunzeln
Der Rest ist Arbeit am Detail. Da ist Holger Karsten Schmidts spielerische Maßarbeit bei den Dialogen. „Lieben Sie Muscheln?“, fragt Jule mit der Absicht, ihren Chef zum Abendessen einzuladen. „Wenn sie verschwiegen sind“, kommt es unpassend, aber launig zurück. „Herr Platthammer, haben Sie keine Familie?“, fragt die Polizistin wegen der vorgerückten Stunde den Kollegen. Antwort: „Doch, drum arbeite ich ja immer so lang.“ Die Überbringung einer Todesnachricht mit dem Satz einzuleiten, „Ihrem Mann geht’s nicht so gut“, ist in diesem speziellen Fall ein kapitaler Lacher. Das Besondere bei diesen Auflockerungen am Rande: Sie wirken nie aufgesetzt, sie werden nicht groß vorbereitet oder besonders betont. Sie sind einfach da, verdichten die Handlung und schaffen ein dezent ironisches Klima. Oder sie sind ein witzig verspieltes Accessoire: Wo Schüsse fallen, sind die zwei umtriebigen Bestatter des Dorfs stets zur Stelle: „Gab es – hoffentlich – nicht noch mehr Tote… eventuell?“ Ähnlich klug verfahren Schmidt und Regisseurin Dagmar Seume mit den Emotionen. Sie werden nicht inszeniert und finden nicht als Effekte Eingang in den Film. In einer Sequenz, der OP des geliebten Hundes, werden die Gefühle regelrecht von Hinnerk Schönemann erspielt. In diesen vier Minuten wird das Wesen seiner Figur in ihrer Tiefe sehr viel transparenter, als es Fakten zu Hauke Jacobs Vorgeschichte ausdrücken könnten. Überhaupt ist die Tierliebe des Helden ein sehr beredter Charakterzug. Und das Lakonische der Erzählung resultiert nicht nur aus dem Verhalten, sondern auch aus der Montage: Eine Ellipse zur rechten Zeit macht Laune. Den Höhepunkt dieser Auslassungsstrategie gibt es am Ende: eine Waffe mit Schalldämpfer, Schüsse, Schuhe, die auf einem Plastiksack stehen, eine Pistole am Kopf eines Mannes, ein anderer Mann versenkt den Plastiksack im Meer. Da kann man zu recht gespannt sein auf die nächste „Nord-bei-Nordwest“-Episode, bereits in einer Woche. (Text-Stand: 27.2.2017)

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Reihe

ARD Degeto

Mit Hinnerk Schönemann, Henny Reents, Marleen Lohse, Peter Prager, Björn Grundies, Mark Zak, Lina Wendel, Rudolf Danielewicz

Kamera: Carl-Friedrich Koschnick

Szenenbild: Marion Strohschein

Kostüm: Antja Petersen

Schnitt: Oliver Grothoff

Musik: Stefan Hansen

Produktionsfirma: Aspekt Telefilm

Drehbuch: Holger Karsten Schmidt

Regie: Dagmar Seume

Quote: 5,96 Mio. Zuschauer (19,2% MA); Wh.: 4,71 Mio. (17% MA)

EA: 30.03.2017 20:15 Uhr | ARD

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