Was ist nur mit „Herrn Jacobs“ los? fragen sich Hannah Wagner (Jana Klinge) und Jule Christiansen (Marleen Lohse). Aber auch Hauke Jacobs (Hinnerk Schönemann) sind mindestens drei Fragezeichen ins Gesicht geschrieben. „Ist die jetzt neuerdings auch Tierärztin?“ fragt ein Bauer, dem der Veterinär seine Kollegin vorbeischicken möchte. Und Wagner schaut ihn mit großen Augen an: „Jule fährt Motorrad?“ Auch Kriminaltechniker Puttkammer (Joshy Peters) versteht bei „mit großem Besteck schnell vorbeikommen“ nur Bahnhof, denkt allenfalls an Catering, Picknick im Grünen, dazu das Besteck aus seinem Restaurant. Gastronomin Bine Pufal hingegen (Victoria Fleer) begegnet Jacobs als Bestatterin, beruflich an ihrer Seite Mehmet Ösker (Cem Ali Gültekin). Herr Töteberg (Stephan A. Tölle) hat Puttkammers Job übernommen und Frau Bleckmann (Regine Hentschel), gerade noch quietschfidel auf den Spuren des türkischen Tausendsassas, hat der Exitus ereilt. Die Welt in Schwanitz steht auf dem Kopf und Jacobs völlig neben sich. Die Erklärung für alles gibt Ex-Kollege Simon Rost (Rainer Furch); der wurde unlängst erschossen, kennt sich also aus mit Totenreich und Zwischenwelt. Nachdem der Raubmörder Wigald Tomke (Milton Welsh) Jacobs in die Brust geschossen hat und Wagner zurückfeuerte, liegen beide im Koma. Nur einer der beiden wird ins Leben zurückkehren. Auf den anderen wartet die letzte Fähre.
Die 23. Episode von „Nord bei Nordwest“ gehört nicht nur auf die Bestenliste dieser beliebten „Donnerstagskrimi“-Reihe. In Sachen Einfallsreichtum, Genre-Variation und Tonlagen-Vielfalt ist die Reihe ohnehin Spitze – und dieser Film ganz besonders. Bei „Die letzte Fähre“ durfte Autor Niels Holle („Frau Irmler“) dem Affen so richtig Zucker geben. Zunächst jedenfalls. In den ersten Minuten des Films, den Reihen-Novizin Judith Kennel („Unter anderen Umständen“) gemäß „NbN“ unaufgeregt lakonisch inszeniert hat, geht alles seinen gewohnten Gang in Schwanitz. Bei einer Polizeikontrolle wird schweres Geschoss auf Mehmet Ösker gerichtet; denn der fährt denselben Wagen wie der flüchtige Schwerverbrecher. Hannah Wagner trägt noch Polizeiuniform, Jule bringt sechs glückliche Ferkel zur Welt und Hauke Jacobs ist ganz gerührt, als diese ihm ein vierblättriges Kleeblatt schenkt. In der 13. Minute dann erwischt es Jacobs und jenen flüchtigen Wigald Tomke. Das Blut fließt, das Kleeblatt wird von ihm davongetragen, woraufhin die Kamera gen Himmel schwebt, um noch einmal zur ersten Einstellung des Films zurückzukehren: Jacobs wird vom Telefon geweckt. Es grüßt hier nur einmal das Murmeltier, da dem Helden nur eineinhalb Tage bleiben, um ins Leben zurückzukehren. Bis zur 30. Minute nimmt die Handlung groteske Züge an. Alle Gewissheiten des Schwanitzer Mikrokosmos sind infrage gestellt: Keiner außer Jacobs ist der, der er bisher war. Der Zuschauer ist amüsiert, Jacobs irritiert – bis ihn ein Toter auf Spur bringt.
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Es bleiben noch fast 60 weitere Minuten in jenem verrückten Zwischen-Bereich, der allerdings zunehmend schicksalhafte Züge annimmt. „Die Toten sind nur dann richtig tot, wenn sich keiner mehr an sie erinnert.“ Diesem Leitsatz folgt der Mörder. Um zu überleben, hat es für ihn keinen Sinn, den komatösen Hauke Jacobs zu bekämpfen, nein, Tomke muss alle töten, die diesen Mann lieben. Die Schwanitzer befinden sich also in akuter Lebensgefahr, ohne davon etwas mitzubekommen. Würde Hauke Jacobs sie aufklären, würde man ihn für verrückt erklären – und dann wären sie erst recht verloren. Mit dieser dramatischen Wendung auf Leben und Tod geht auch ein Tonlagenwechsel einher. Als Zuschauer verschiebt man schneller als gedacht die Koordinaten des herkömmlichen auf das neue System. Identitätswechsel sind im Vergleich zum möglichen Tod der Hauptfigur ja auch eher Peanuts. Und so zieht sich das Komödiantische immer mehr aus der Geschichte zurück. Ironie steckt allenfalls noch in der narrativen Konstruktion, das im Film Verhandelte hingegen ist todernst. Dass jeder Twist beim Kritiker so prima funktioniert, könnte auch ein bisschen mit sogenannter „Kennerschaft“ zu tun haben: Wer alle 23 „Nord-bei-Nordwest“-Episoden gesehen hat, wer das Genre-Spiel inklusive aller Beziehungen bewusst oder auch intuitiv „versteht“ und verinnerlicht hat, der besitzt einen deutlichen Lust-Vorteil gegenüber denen, die nur ab und an Jacobs & Co folgen.
Konservative Fernsehzuschauer sollten sich diese schön schräge, unkonventionell erzählte Episode dennoch keinesfalls entgehen lassen. Der Parallelwelt-Switch funktioniert in „Die letzte Fähre“ völlig anders als beispielsweise in den philosophisch-bizarren Kopfgeburten einiger Tukur-„Tatorte“, allen voran „Murot und das Murmeltier“ oder „Wer bin ich?“. In diesem Schwanitzer Totentanz muss man das Gesehene nicht ständig mit der veränderten Wirklichkeit abgleichen und Übersetzungsarbeit leisten, die Energie und Konzentration kostet. Das macht diesen Film nicht nur sehr viel leichter zugänglich, sondern auch dessen Wechselbad der Gefühle besser goutierbar. Die seltsame Welt mag Distanz schaffen, andererseits ermöglicht es der Film, dass man trotzdem an den Bildern hängenbleibt. Die Wirkung dessen, was wir sehen, die Schusswechsel, die Spannung, die Geständnisse im Angesicht des Todes („Die Wahrheit ist…“) oder die Tragik sind stärker als das im Kopf abgespeicherte Wissen um die Geschichte der Zwischenwelt; sie wirken direkt, unmittelbar, emotional. Das macht dieses ARD-Donnerstagskrimi-Experiment zu einem wunderbaren „Dazwischen“-Werk, das das herkömmliche Krimi-Reihen-Fernsehen mit den zeitgemäßeren Formen des (seriellen) Erzählens versöhnt. (Text-Stand: 11.12.2023)