Alle lieben Lothar Müller (Tim Ehlert). Er ist einer der freundlichsten Bewohner von Schwanitz. Auch seine Ehefrau (Johanna Christine Gehlen) ist immer noch ganz schockverliebt. Womöglich hängt dies aber auch damit zusammen, dass Lothar Müller als Handelsvertreter viel unterwegs ist. Als eine Dienstreise Richtung Dänemark für ihn tödlich in Travemünde endet – und zeitgleich eine andere Ehefrau, Lisa Meier (Marie Hacke), dort ebenfalls ihren geliebten Gatten vermisst meldet, ist die Verwunderung groß bei Hauke Jacobs (Hinnerk Schönemann), Hannah Wagner (Jana Klinge) und den kriminalistischen Aushilfskräften, „Hilfssheriff“ Jule (Marleen Lohse) und Polizei-Praktikant Mehmet Ösker (Cem Ali Gültekin). Denn die vermisste Person in Travemünde heißt ebenfalls Lothar – und sie sieht nicht nur genauso aus wie Lothar Müller… Für Jacobs & Co heißt dies: doppeltes Überbringen einer doppelt schlechten Nachricht. Nach der Opfer-Betreuung nimmt der Fall Fahrt auf in eine unerwartete Richtung: Offenbar hat der russische Auslandgeheimdienst seine schmutzigen Finger im Spiel. Für die Dorfpolizei ist das eine Nummer zu groß. Deshalb nimmt Jacobs Kontakt zu Ex-Agent Reimar Vogt (Peter Prager) auf, dem Vater seiner im Dienst erschossenen Kollegin. Der sitzt zwar im Rollstuhl, hat dafür aber eine Assistentin (Amina Merai), die superschlau und bestens informiert ist.
„Der doppelte Lothar“, das klingt nach den Filmtiteln, die der MDR seinem „Tatort“ aus Weimar gegeben hat. Diese 22. „Nord bei Nordwest“-Episode beginnt denn auch recht schräg: Eine Observierung per Auto wird auf einer kindlich anmutenden Landkarte originell, Erzählzeit und Geld sparend dargestellt; Jule hört ein Oldie von 1967 (Box Tops: „The Letter“); auch der Score klingt wie aus jener Zeit, als die Filmkomponisten noch richtig aufdrehten, wie ein Mix aus analogem Orchester, Easy-Listening und Funky-Beats; und über die vorgestrige Ausstattung auf der Polizeidienststelle dürfte sich nicht allein Mehmet Ösker wundern. Der versteht möglicherweise wenig von Pop & Design der Sixties, dafür legt ihm Drehbuchautor Holger Karsten Schmidt historisches Wissen in Frauenemanzipationsfragen in den Mund, mit dem niemand bei ihm gerechnet hätte. Der Vintage-Look und die kleinen Spielereien waren die Idee von Hinnerk Schönemann, der hier zum zweiten Mal die Regie übernommen hat. Die kleinen Charakter-Irritationen sind hingegen Buch-Ideen, genauso wie das Motiv des männlichen Doppellebens, das unterschwellig auch auf das ambivalente Verhältnis des Reihen-Trios anspielt. „Ein Mann und zwei Frauen – Wo gibt’s denn sowas!“, schmunzelt Jule. Nun ja, Jacobs fühlt sich seit jeher recht wohl in seiner Hahn-im-Korb-Rolle. Fast ein bisschen schade, dass auch die Frauen in ihren traditionellen Rollen verharren.
Die Geschichte bietet den Zuschauer*innen durchaus Interpretationsansätze für das Doppelleben des Mannes, nicht überholt geschlechts-, sondern eher beziehungsspezifische: Ist Monogamie vielleicht doch nicht die beste Lösung? Hat diesem Partner (um nicht zu sagen Mann) eben doch etwas gefehlt in seiner ersten Ehe? Und mehr noch: Hat die Ehe ihn möglicherweise in eine bestimmte Rolle gezwängt, aus der er nicht mehr herauskam? Es ist interessant, dass beide Frauen ihren Lothar als absolut gegensätzlich beschreiben. In Schwanitz war Lothar Müller der vernünftige, rationale, strukturierte Familienvater; auch in Travemünde hat er für Nachwuchs gesorgt, war dort allerdings der spontane Bauchmensch, der alles ausprobieren musste. Sieht man dagegen, wieviel Spaß beispielsweise auch Jacobs, Wagner & Jule trotz eines gewissen Konkurrenzverhaltens miteinander haben, so ist diese Kritik an der Institution Ehe kein Zufall. Insbesondere bei einem Drehbuchautor wie Holger Karsten Schmidt, der in seinen Genrefilmen gern mit Konnotationen arbeitet, denen man nachgeben kann, aber nicht muss. Auffallend, wie ernst die Hinterbliebenen-Fürsorge genommen wird. Die beiden Frauen nehmen sich Zeit für die Witwe in Schwanitz, und Jacobs findet in Travemünde die richtigen Worte. Längere Zeit spielt der Krimifall keine Rolle, und es stört kein bisschen. Dann ist die Rechtsmedizin soweit – und der Doppelleben- bzw. Selbstverwirklichungsdiskurs wird in eine Agentenstory überführt: Aus dem Krimi-Drama, das seinen emotionalen Höhepunkt in einer Sequenz findet, in der die Mutter dem zehnjährigen Sohn erklären muss, dass sein Vater nicht wiederkommen wird, untermalt von dem melancholischen „The Last Goodbye“ von The Kills, wird ein Spionage-Krimi.
Auch kein Zufall ist das Setzen auf Parallelmontagen bei der „Opfer-Betreuung“. So wird das Doppelleben des Mannes in Dramaturgie und Filmsprache eingeschrieben. Apropos Filmsprache: Als der russische Geheimdienst ins Spiel kommt, wird die Erzählung insgesamt dunkler, die Vorgeschichte und die Motive für das eigene Handeln gewinnen an Komplexität, Situationen und Szenen werden hingegen „enger“. Dies spiegelt sich in zwei längeren Szenen wider, in denen Vogts Mitarbeiterin Jacobs, einmal ohne, einmal mit Wagner, die historischen Hintergründe des Falls darlegt. Für Zuschauer, die alles genau verstehen wollen, ist dieses dialoglastige Geheimdienst-Geschwurbel etwas anstrengend. Die Kompliziertheit der Geschichten hinter dem, was man hier und jetzt sinnlich wahrnimmt, das ist seit jeher ein Manko des Spionagegenres. Aus diesem Grund war es eine gute Idee, das erste konspirative Treffen in geheimnisvollem Kaminfeuer-Licht abzuhalten, gerade noch so hell, dass Jacobs sehen kann, wie gutaussehend diese blitzgescheite junge Frau ist. Das zweite Gespräch, eine Art „Polizisten fragen, Sabine Keller antwortet“ (damit für den mitdenkenden Zuschauer Logiklücken ausgeschlossen werden), findet in einem Überwachungsbus statt. Wenig später kehrt „Der doppelte Lothar“ zur physischen Direktheit zurück. Und wie! Wagner macht auf Emma Peel, Jule auf Wilhelm Tell und Hauke Jacobs auf Action-Held, der allerdings auf weibliche Hilfe angewiesen ist. Und eine Prise Selbstjustiz ist auch im Spiel, möglicherweise vorsorglich beziehungsweise nachträglich entschärft. (Text-Stand: 11.12.2023)