Ein 50 Jahre verschollener Vater, drei Geschwister und die Verantwortung
Was für eine absurde Situation! Die Geschwister Mareike (Andrea Sawatzki), Dietrich (Simon Schwarz) und Felicitas (Jule Böwe) können es nicht fassen: Ihr vor 50 Jahren in Argentinien verschollener Vater Xaver (Branko Samarovski) sitzt plötzlich vor ihnen – mittellos, keine Krankenversicherung und ohne Rentenanspruch. Die Versuche, ihn auf dem Sozialamt oder und in diversen Altenheimen abzuladen oder ihn an einer Autobahnraststätte auszusetzen, scheitern – und so wird der alte Mann zwischen den Geschwistern hin und her geschoben. Xaver ist pflegeleicht, kann aber auch bockig sein, wenn ihm etwas gegen den Strich geht. So könnte er Ärger kriegen mit dem Anwaltsvater (Thomas Limpinsel) von Felicitas Horrorschülerin und mit Dietrichs hysterischer Ehefrau (Karolina Lodyga); dagegen finden Mareikes Langzeitbeziehung (Andreas Pietschmann) und Dietrichs Prinzessin diesen „Opa“ ziemlich cool. Man sollte ihn auf jeden Fall nicht unterschätzen. Bald lacht sich Xaver sogar eine Verehrerin (Johanna Bittenbinder) an – und verfolgt heimlich einen Plan, wie er seinen Kindern vielleicht nicht mehr auf der Tasche liegt. Eine Rolle spielt dabei ausgerechnet der Mann, der nach ihm in der wilden Hippiezeit mit der Mutter von Mareike, Dietrich und Felicitas Tisch und Bett teilte: Maler und „Arschloch“ Tautenberg (Martin Umbach).
Foto: BR / ORF / Marc Reimann
Was wäre wohl geworden aus den dreien, wenn der Vater dagewesen wäre?
Der Plot deutet es an: „Nimm du ihn“ ist eine Komödie, die ihre tieferen Wahrheiten aus einer absurden Ausgangssituation und schräg überzeichneten, sehr lebendigen Charakteren schöpft und nicht – wie so häufig im Fernsehen – die Alltagslogik zum Maß aller Dinge macht, was häufig in einer weichgespülten Dramödie endet. Vertauschte Rollen, verkehrte Welt – aus dem Doppelresidenzmodell für Scheidungskinder wird in dem Film von Michael Hofmann eine Art Dreifachresidenzmodell für den alten Herren. „Seit du da bist“ hieß Hofmanns letzter Film, eine bezaubernde, frankophile Liebeskomödie mit Manuel Rubey und Martina Gedeck. Sein neuer Film, für den der Co-Autor Bert Koß die entscheidende Idee von einem Vater hatte, den seine Kinder gar nicht kennen, könnte durchaus den Titel tragen „Seit Sie da sind“. Lange siezt man sich in dieser „Familie“, aber nach und nach verändert sich etwas im Umgang mit dem alten Mann. Alle Geschwister kommen im Laufe der Handlung ihrem Glück ein Stück näher. Das kann kein Zufall sein. Was wäre wohl geworden aus den dreien, wenn der Vater in deren Jugend dagewesen wäre? Die Autoren tun gut daran, diese Frage allein die Figuren, insbesondere den depperten Sohn, stellen zu lassen und daraus keine wohlfeile Moral von der Geschicht‘ abzuleiten. Es ist ein Gedanke von vielen, der angesprochen wird in dieser Komödie, die ein Füllhorn an klugen Ideen und köstlich komischen Situationen ausschüttet.
Foto: BR / ORF / Marc Reimann
Komische Situationen, kluge Details, Kracherbesetzung: eine köstliche Komödie
Das launige Durcheinander beginnt auf dem Sozialamt. „Das wird ein schöner Tag“, strahlt die Sachbearbeiterin bei der Begrüßung. „So ein Scheißdreck“, zieht der Sohn Zwischenbilanz. „Es geht um Unterhalt“, bringt es die älteste schließlich auf den Punkt. „Natürlich auch – neben der Freude“, strahlt die Frau vom Amt unaufhörlich weiter. Später kehrt Dietrich noch einmal mit seinem Vater aufs Sozialamt zurück. Er hat sich kundig gemacht: keine Unterhaltszahlungen an die Kinder ergo keine eigenen Ansprüche im Alter. „Ich will meinen Vater zurückgeben“, sagt er allen Ernstes. Das findet der Dienststellenleiter zum Wegschmeißen komisch und liegt tatsächlich Sekunden später in bester Slapstick-Manier auf der Nase. „Den Vater hierlassen – bieten wir sowas an?!“ Katharina Schüttler und Martin Brambach haben sichtlich Spaß an ihren kleinen Gastrollen. Über die gesamten 90 Minuten mit vordergründigem wunderbarem Witz und hintergründiger Charakterkomik ausgestattet sind hingegen die Hauptfiguren, die klug und selbstkritisch sind, zumindest die Frauen. „Ich habe eine überdrehte Schwester, einen bekloppten Bruder und einen freilaufenden Vater und ich selbst bin auch nur von Weitem einfach“, sagt beispielsweise die jüngste der Geschwister dem Mann, der eine Einladung zum Zusammenleben einer Anzeige gegen den Vater seiner Angebeteten vorzieht. Sein „Ich freu mich drauf“ erinnert an das finale „Nobody’s perfect“ aus „Manche mögen’s heiß“. Und auch die „überdrehte Schwester“ findet klare Worte: „Ich bin eine beziehungsunfähige, hysterische Ziege in den Wechseljahren, und es gibt keinen Grund für einen intelligenten, klugen Mann, mit mir zusammen zu sein.“ Und dem „bekloppten Bruder“ muss man nur zugucken und zuhören. „Ich heirate nicht einen alten Mann und kümmere mich dann um zwei“, wettert seine Frau – und er versteht nur Bahnhof. Auch der „freilaufende Vater“, erst wenige Minuten mit ihm allein, fragt schon: „Bist du ein Idiot oder was?!“ Lakonische, trockene Dialogwechsel sind ein Herzstück des Films. „Redet nicht viel, dein Sohn“, meint der Alte. Darauf Felicitas: „Hab‘ ihn schon mal was sagen gehört.“ Ein weiteres Herzstück sind selbstredend die, die diese Dialogwechsel spielen dürfen: Branko Samarovski, Andrea Sawatzki, Simon Schwarz, Jule Böwe – einfach hinreißend!
Foto: BR / ORF / Marc Reimann
Der Pulsschlag dieses Films sind sein hohes Tempo und die trockenen Dialoge
„Nimm du ihn“ besticht aber auch filmisch. Die ästhetische Besonderheit dieser BR/ORF-Koproduktion ist das hohe Tempo. Dieses Tempo dürfte bereits im Drehbuch angelegt gewesen sein. Alles Überflüssige wird weggeschnitten. Aktion, Reaktion – das „Dazwischen“ hemmt nur die Pointe. Beispiel: „Was wollen Sie“, fragt der Sohn den Vater. Schnitt: „Er will sich nützlich machen“, sagt der Sohn seiner Frau. Als diese morgens ihr Töchterchen bei ihrem Opa im Bett findet, nimmt der alte Zausel – in der nächsten Einstellung – sein Frühstück unter spätherbstlichem freiem Himmel ein. Ein Schmunzeleffekt resultiert auch aus einer Szene, in der sich in Loriot-Hamann-Manier Felicitas und ihr Anwalt im Auto vor seinem Haus näherkommen, zu dem sich kurz zuvor Xaver Zutritt verschafft hatte, bevor er heftig die Treppe herunterstürzt. Trotz Blaulichts lässt sich das Paar nicht stören. Und weil ab Minute 70 erst einmal Glück und Liebe der drei Geschwister ihr schräges Recht fordern, weiß man erst vier Minuten später, was denn das Blaulicht zu bedeuten hatte. Anders als in vielen anderen Komödien ist bei Hofmann das hohe Tempo nicht dazu da, Ungenauigkeiten in der Erzähllogik oder Schwächen der Inszenierung zu kaschieren. „Nimm du ihn“ ist vielmehr eine vorbildliche Komödie, die Spaß macht und die dem Zuschauer mit Hilfe eines herzhaften Lachens so manche bittere Wahrheit über den Generationenvertrag näherbringt. Wie heißt es ganz zum Schluss? „Wir sind nicht nett. Wir sind eine Familie.“ (Text-Stand: 10.8.2019)