Der leider zur Phrase verkommene Mantel der Geschichte streift einen nur ganz selten in diesem Fernsehfilm von Frank Beyer, zweimal, um genau zu sein: Zum ersten Mal, als sich die Besucher des Montagsgebets in die Nikolaikirche von der Polizei umzingelt sehen, und – brennende Kerzen in den Händen – „We shall overcome“ anstimmen; und zum zweiten Mal, als Bachs massige Toccata in d-moll – zum wiederholten Mal aufgegriffen – endlich die geballte Wucht des Volkswillens symbolisiert. Dieses Mal versperren die Kerzenlichter den Zugang zur Leipziger Stasi-Zentrale, während drinnen ein im Stich gelassener General feststellt: „Auf alles waren wir vorbereitet, nur nicht auf Kerzen und Gebete.“
Zwei Szenen, zwei Augenblicke. Zu wenig für einen dreistündigen Fernsehfilm. Zu wenig für einen Film, der von zwei Großen der ostdeutschen Kulturgeschichte, Beyer und Schriftsteller Erich Loest, hauptverantwortlich gemacht wurde. Das Ergebnis ist alles andere als großes (Geschichts-)Fernsehen. Dafür sind die Figuren viel zu schablonenhaft. Innerhalb der Familie, die im Mittelpunkt des Zweiteilers steht, sind die Rollen extrem polarisiert: hier der Stasi-Hauptmann (Ulrich Matthes), der dem Vorbild seines verstorbenen Vaters, eines Helden der Republik, nacheifert (der Tod des Vaters, so suggeriert der Film seltsamerweise, hat die Revolution erst ins Rollen gebracht); dort die Schwester Astrid (Barbara Auer), die immerhin im Verlauf der Geschichte eine Entwicklung durchmacht: von anfänglich zaghaftem, eher physischen Protest in trotziger Schönheit bis hin zum offen ausgelebten Widerstand. Und über beiden, seltsam entrückt, schwebt die Mutter, die im erfolgreichen Sohn das Andenken an den verstorbenen Gatten liebt. Auch er aber, der Sohn, musste sich einem in diesem Film genüsslich zelebrierten Klischee fügen: Die Angehörigen der Stasi und ihre Spitzel sind samt und sonders an fettigen oder pomadisierten Haaren und schlecht sitzender Kleidung zu erkennen, während den Guten der aufrechte Gang stets auch ins Gesicht geschrieben war. Unter den offensichtlichen Ungereimtheiten noch eine letzte: Sämtliche Beteiligten sprechen ein akzentfreies Hochdeutsch; der fehlende sächsische Dialekt ist somit auf negative Weise perfekt repräsentativ für den gesamten Film: Alle Unebenheiten sind sorgfältig glattgebügelt.
Die Gegen-Meinung:
„DDR-Regielegende Frank Beyer verdichtet die Vorlage zu einer eindrucksvollen Momentaufnahme der jüngeren deutschen Geschichte… Lektion über die Macht des Widerstands: stark!“ (TV-Spielfilm)
Dies gilt auch für die Regie. Was man zunächst noch angesichts der Filmographie Frank Beyers als zurückhaltende bis sparsame Inszenierung einzustufen bereit war, entpuppte sich mehr und mehr als konventioneller Stil bis hin zur Einfallslosigkeit. Das soll allerdings nicht heißen, dass mit einem anderen Regisseur aus „Nikolaikirche“ ein besserer Film geworden wäre. Das Scheitern war schon im Drehbuch verankert. Dabei hätte die Grundidee von Erich Loest (er adaptierte gemeinsam mit Beyer und Eberhard Görner seinen gleichnamigen Roman) durchaus funktionieren können, wenn auch der Einfall, große Geschichte im Kleinen zu reflektieren, nicht gerade neu ist. Trotzdem besaß diese Konstellation der Geschwister, die beide unter einer Art Übervater leiden, der natürlich die Staatsmacht symbolisiert, ihren Reiz. Obgleich der Film beides, das Leiden wie das Symbolisieren, viel zu wenig herausarbeitet.
Da die Autoren die große Geschichte nicht bloß in eine, sondern in viele kleine Geschichten aufteilen (was im Prinzip richtig ist), taucht in „Nikolaikirche“ eine Vielzahl an Figuren auf, die als Protagonisten eingeführt werden, dann aber sang- & klanglos verschwinden. Sporadisch rückt die Kamera sie immer mal wieder ins Bild, um am Schluss schließlich alle, Freund und Feind, friedlich vereint im Umzug des 9. Oktobers zu zeigen. Hier endlich macht der Film auch mal Spaß, weil Beyer Fernsehen für Zuschauer macht, die auch hinschauen und mitdenken: Kurz vorher waren die Sitzbänke in der Nikolaikirche noch von linientreuen Genossen besetzt; dieselben Gesichter pickt die Kamera nun aus der Demonstration heraus.
Angesichts der Durchschnittlichkeit der Inszenierung und der Holzschnittartigkeit seiner Protagonisten wird die ARD-Produktion von Charakterköpfen dominiert, deren Figuren damit schon wieder eine ungebührlich große Rolle zukam: da ist Ulrich Mühe als tapferer Pfarrer der Nikolaikirche, Otto Sander als sein etwas vorsichtiger, aber gleichfalls unerschrockener Superintendent oder Ulrich Tukur in einer erfrischend undurchsichtigen Rolle als Rechtsanwalt. Der Film verliert seine Beliebigkeit immer nur dann, wenn Beyer und seine Autoren die Omnipotenz und Omnipräsenz des Apparates – in jedem Fenster eine Kamera, unter jedem Tisch eine Wanze – nachvollziehbar deutlich machen und nicht bloß abstrakte Abhörtechniken vorzeigen: Als sich der Stasi-Hauptmann eine Liebschaft genehmigen lassen will, wird gleich der lückenlose Lebenslauf der Freundin aus dem Aktenschrank geholt. In solchen Momente gruselt es einen, denn da sind die Umstände lebendiger als so manche der Figuren, von denen man zum Teil das Gefühl hat, sie seien in den falschen Film geraten.