Dieser Film ist eine wahre Freude für alle Zuschauer, die überzeugt sind, jede Geschichte sei schon mal erzählt worden. Es mag gewisse Parallelen zu den Verfilmungen von Monika Peetz’ Romanen über die „Dienstagsfrauen“ geben, aber Ruth Toma bereichert die Rahmenhandlung in ihrem von Regisseur Wolfgang Murnberger bearbeiteten Drehbuch um eine ganz entscheidende Komponente: „Nichts zu verlieren“ orientiert sich zwar ähnlich wie die „Dienstagsfrauen“-Trilogie an der Dramaturgie eines Pilgerfilms, doch zu den Teilnehmern im Reisebus gesellen sich ein schwerverletzter österreichischer Krimineller und sein Komplize. Die beiden haben soeben den Tresor eines berühmten Künstlers geleert und sind nun auf der Flucht. Diese kleine Abweichung vom Schema genügt, um das Subgenre gegen den Strich zu bürsten, weil die typische Selbstfindungsthematik nun in ganz anderem Licht erscheint.
Und noch einen Unterschied gibt es. Als sich die Menschen im Bus gegenseitig vorstellen („Harry, sieben Monate“), klingt das zunächst rätselhaft: als würden sie die Zeit bemessen, die ihnen noch bleibt. Für Todkranke sehen sie aber viel zu gesund aus. Es dauert eine Weile, bis das Geheimnis gelüftet wird: Die Fahrgäste befinden sich auf einer Trauerreise. Sie haben einen geliebten Weggefährten verloren und wollen mit Hilfe von Trauertherapeutin Irma (Lisa Wagner) über den Verlust hinwegkommen. Deshalb hat die Fahrt auch kein konkretes Ziel. Der Weg ist das Ziel. Das Gefährt ist vierzig Jahre alt und zuckelt zur Verzweiflung der beiden Verbrecher nur im Schneckentempo durchs bayerische Voralpenland Richtung Österreich. Während der beschaulichen Tour erzählen die Mitreisenden ihre Geschichten, was zu einigen Überraschungen führt. Zwar trauern alle um einen Lebensgefährten, aber das muss nicht immer der Mann oder die Frau gewesen sein. Mit großer Kunstfertigkeit fügt Murnberger die entsprechenden Schlüsselszenen als Rückblenden ein, und auch auf dieser Ebene beantwortet der Film nicht alle Fragen sofort; die in Schwarz gekleidete kühle Hilde (Susanne Wolff) zum Beispiel war anscheinend eine Geliebte, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Wie behutsam der österreichische Regisseur den Film inszeniert hat, zeigt ein weiteres Detail: Die Teilnehmer sitzen allein auf einem Zweierplatz. Der Sitz neben ihnen bleibt leer, weil der Partner nach wie vor eine große Rolle in ihrem Leben spielt und sie imaginär begleitet; die Toten fahren gratis mit. Ganz kurz tauchen die Verstorbenen tatsächlich auf, aber Murnberger integriert diese Momente derart beiläufig in den Erzählfluss, dass man schon zweimal hinschauen muss.
„Es gibt sie wirklich, diese Trauerreisen, in denen es darum geht, den Verlust eines geliebten Menschen zu bewältigen. Und damit man sich in der Trauer nicht so allein fühlt, macht man mit anderen Trauernden eine gemeinsame Busreise mit einer Trauertherapeutin. Und Trauer, ob man will oder nicht, geht jeden was an. Denn sie ist die Tante des Todes und mit dem Tod sind wir ja auch alle eng verwandt. Kann man über Tod und Trauer einen komödiantischen Film drehen? Man muss. Wenn man sich zwischen den beiden Strategien, Lachen oder Beten, die es zu deren Bewältigung gibt, entscheiden muss, entscheide ich mich lieber für das Lachen, solang ich noch kann!“ (Wolfgang Murnberger, Filmemacher)
Im Grunde ist „Nichts zu verlieren“ also ein Drama mit hohem Identifikationspotenzial, schließlich hat so gut wie jeder schon mal einen geliebten Menschen verloren. In der Tat gibt es Augenblicke, die zu Herzen gehen, aber Toma und Murnberger erzählen die Geschichte in erster Linie als Komödie. Das ist schon deshalb ein Kunststück, weil sämtliche Einzelteile der Handlung Tragödien sind. Auch die zu einer gewissen Tantenhaftigkeit neigende Therapeutin Irma – „Ordnung ist ein Haltegriff im Chaos des Lebens“ – ist nicht nur Reiseleiterin, sondern selbst betroffen; und während sich der Bus durch die Serpentinen windet, verblutet Richy, der Wortführer der beiden Kriminellen. Gespielt wird er von Georg Friedrich, dem einzigen Österreicher, der in deutsch-österreichischen Koproduktionen kein Fernsehwienerisch reden muss, weil der ausgeprägte Dialekt Teil seines Markenzeichens ist. Richy ist außerdem ein gutes Beispiel dafür, wie sorgsam Toma und Murnberger die Rollen entwickelt haben. Weil der Ensemblefilm auf eine zentrale Identifikationsfigur verzichtet, bleiben die Reisenden anfangs auf Distanz. Ihre Schicksale sorgen zwar für eine gewisse Anteilnahme, aber Sympathien entwickeln sich erst, als aus den Individuen eine Gemeinschaft wird, zu der schließlich auch Richy gehört; auf diese Weise kommt sogar der Verbrecher in den Genuss von Mitgefühl. Tom (Christopher Schärf), Richys Halbbruder, hat da längst die Seiten gewechselt, weil sich Miriam (Emily Cox), deren Mann bei einem Motorradunfall gestorben ist, zu ihm hingezogen fühlt. In dieser Szene verliert der Film kurz seine souveräne Eleganz, als Helmut (Bernhard Schütz), seit sieben Jahren Witwer, angesichts der beiden Turteltauben vom „Helsinki-Syndrom“ spricht und Christa (Johanna Gastdorf) ihn nicht nur korrigieren, sondern auch erläutern muss, was es mit dem Stockholm-Syndrom auf sich hat. Das ist aber der einzige Stolperer in einer ansonsten wunderbar schlüssig und flüssig komponierten Tragikomödie, in der Buch und Regie immer wieder die Erwartungen konterkarieren. Richys Verletzung zum Beispiel stammt nicht etwa aus einem Schusswechsel. Beim Raub gab es einen dritten Mann, Charly (Marcel Mohab). Der ist bei der Flucht gestolpert, dabei hat sich ein Schuss gelöst. Als Richy und Tom den defekten Fluchtwagen stehen lassen und an einer Tankstelle den Bus kapern, werden sie fortan gleich doppelt verfolgt: Charly will seinen Anteil an der Beute, Irmas Mann Peter (Aurel Manthei), der Veranstalter der Reise, will den Bus stoppen, denn Fahrer Rolf (Michael Grimm) hat an der Tankstelle die Hälfte der Teilnehmer „vergessen“. Witzig wird diese Ebene, weil sich Charly kurzerhand in Peters Kofferraum versteckt und nun Zeuge wird, wie Irmas Mann angesichts der grotesken Situation permanent vor sich hin lamentiert. Dass sich selbst der zunächst äußerst unsympathische Peter gegen Ende wandeln darf, beweist die große Zuneigung des Films zu all seinen Figuren.
Murnberger ist bekannt dafür, ernsten Geschichten eine heitere Anmutung zu geben (etwa in den „Spätzünder“-Komödien oder in „Kästner und der kleine Dienstag“). Wie gut ihm der Film als Gesamtkunstwerk gelungen ist, zeigt nicht zuletzt die Verwendung von „Tears in Heaven“. Das Lied ist ein Trauerklassiker, Eric Clapton hat es anlässlich des Todes seines kleinen Sohnes geschrieben, aber selbst in dieser Szene versinkt „Nichts zu verlieren“ nicht im Sentiment. Außerdem sorgt die entspannte Musik mit ihren Bottleneck- und Blues-Elementen (Alexander Maschke, Dominik Giesriegl) für ein heiteres Vorzeichen. Viele Filme Murnbergers basieren auf Drehbüchern von Uli Brée, der womöglich noch bissigere Dialoge geschrieben hätte, aber gerade Friedrich („So eine Trauerreise würde ich nicht mal als Toter aushalten“) hat eine ganze Reihe trocken vorgetragener Einzeiler. Der Filmtitel ist angesichts der lebensmüden Schicksalsergebenheit der Reisegemeinschaft ohnehin genial, sodass Richy schließlich resigniert resümiert: „Keinen Respekt mehr, die Geiseln heutzutage.“