Es könnte eine lockere Sommeraffäre werden zwischen Anna (Emma Drogunova) und Jonas (Gustav Schmidt). Sie hat ihr Sprachstudium abgeschlossen, er steckt in seiner Promotion. Nach einem flüchtigen One-Night-Stand führt das rheinische Nachtleben die beiden immer mal wieder zusammen. Anna ist die sexuell Aktivere. Jonas hängt offenbar noch an seiner letzten Freundin, ist nicht so der Typ für unbeschwerten Sex. „Verstehe das jetzt bitte nicht als Herabsetzung“, kommentiert er seine fehlende Lust. Bei einem späteren Aufeinandertreffen, der Gartenparty zum Dreißigsten ihres gemeinsamen Freundes Hannes (Lamin Leroy Gibba), sind Unmengen an Alkohol im Spiel. Anna kann irgendwann nicht mehr selbstständig auf den Beinen stehen. Nachdem sich ihre Mitbewohnerin (Amina Merai) verabschiedet hat, kümmert sich der angetrunkene Jonas um Anna. Die hat zwar einen partiellen Filmriss, kann sich allerdings an eines sehr genau erinnern: Nachdem er ihr die Hose ausgezogen hat und offensichtlich mit ihr schlafen wollte, habe sie „nein“ gesagt. Er aber habe sich nicht von seinem Plan abhalten lassen. Am nächsten Morgen verlässt Anna beschämt Jonas‘ Wohnung. Trotz des sicheren Gefühls, vergewaltigt worden zu sein, kann sie sich mit dem Gedanken nicht abfinden: Sie will kein Opfer sein, und vielleicht habe sie ihr „nein“ ja auch gelallt. Erst nach zwei Monaten überredet ihre Schwester (Katja Hutko) Anna, Anzeige zu erstatten.
„Vergewaltigung ist nichts, was uns passiert. Vergewaltigung passiert anderen Leuten“, sagt die weibliche Hauptfigur in dem ARD-Fernsehfilm von Julia C. Kaiser. „Nichts, was uns passiert“, frei nach dem gleichnamigen Roman von Bettina Wilpert, weitet den Blick für das gesellschaftliche Phänomen sexualisierte Gewalt und sensibilisiert für seine strukturellen Zwischentöne. Anna will – wie sie sagt – nicht nur „keines dieser Metoo-Opfer“ sein, auch die Erfahrungen jener Nacht und ihre Gefühle danach gehören für sie nicht zu einem typischen Vergewaltigungsszenario, wie es ihr die Gesellschaft vorerzählt hat. Als in ihr die Überzeugung reift, dass es sich trotzdem um eine Vergewaltigung handelt, geht es ihr erst einmal nicht um die Bestrafung des Täters, noch weniger um Rache. Jonas habe zwar etwas Schlimmes getan, sei aber kein böser Mensch, sagt sie. Eine aufrichtige Entschuldigung hätte Anna womöglich genügt – und eine Reflexion der Situation: „Dass er aus tiefster Seele versteht, was er getan hat und wie stark sein Fehlverhalten jetzt ihren Alltag beeinflusst“, so Hauptdarstellerin Emma Drogunova im Presseheft-Interview. Dass sich aber Jonas keiner Schuld bewusst ist, macht Anna wütend. „Ich bin einer von den Guten!“ Aber offenbar haben ihn in jener Nacht seine Überzeugungen nicht davon abgehalten, das Falsche zu tun.
Die ästhetische Darstellung von sexueller Gewalt bringt eine große Verantwortung mit sich. Wir wollten stereotype Bilder nicht reproduzieren, und es war klar, dass wir die Vergewaltigung selbst nicht zeigen.“ (Kamerafrau Lotta Kilian)
Mit dem Satz „Wenn du die Wahrheit auf eine Stimme reduzierst, dann ist sie falsch“ bringt die Hauptfigur in einem unverfänglichen Gespräch lange vor der Thematisierung der Vergewaltigung etwas zur Sprache, was als die ästhetische Botschaft des Films angesehen werden kann. Es gibt immer mehrere Wahrheiten, insbesondere bei solch schwierigen Sachverhalten, und nicht unbedingt muss dabei eine Person vorsätzlich lügen. Wie konnte es zu den unterschiedlichen Bewertungen jener Nacht kommen? Vielleicht hat sich die attraktive Anna durch die frühere Zurückweisung narzisstisch gekränkt gefühlt. Allerdings lernt man die junge Frau, die zwar launisch und leicht reizbar ist, als einen offenen, authentischen und angenehm direkten Menschen kennen. Diese Direktheit ist es, die immer wieder zu Spannungen zwischen den beiden führt. Was als ironischer Studi-Talk beginnt, ufert schon mal in heftige Provokationen aus. Muttis Liebling ist es offenbar nicht gewohnt, von einer jungen Frau so viel Contra zu kriegen. Sexuell ist Jonas Anna ohnehin unterlegen, dass sie ihm sprachliche Ungenauigkeit vorwirft, während er sich für rhetorisch äußerst versiert hält, wurmt ihn sichtlich. Wollte er in jener Nacht endlich einmal das seltene Gefühl seiner Überlegenheit ausleben? Jonas hat nicht die Präsenz von Anna im Film. Aber er hat Fürsprecher: Seine Mutter macht ihn zum Feministen, dem sie beigebracht habe, dass Gewalt im Verteidigungsfall ok sei. Möglichweise fühlte er sich bei Anna in dieser Position. Und vielleicht sind seine klugen Sprüche über Sexismus und Gender-Fragen ja nur eine Masche, hinter der sich die alten patriarchalischen Muster verbergen. Darsteller Gustav Schmidt sieht das jedenfalls so: „Jonas legt viel Wert auf sein Image und produziert bewusst ein Bild von sich, das sehr ‚woke‘, empathisch, links und aufgeschlossen wirkt.“
Statements von Autorin & Regisseurin Julia C. Kaiser:
„Vergewaltigung wird in unserer Gesellschaft als fundamentale Beschädigung von weiblichem Status, Identität und Selbstwahrnehmung eingestuft. Gegen diese Beschädigung kann sich Anna nur wehren, indem sie die Attacke nicht als Vergewaltigung wahrnimmt.“
„So etwas wie ‚objektive‘ Gewalt gibt es nicht, sondern wir als Gesellschaft legen fest, was wir als Gewalt wahrnehmen und welche Körper schützenswert sind und welche weniger.“
Solche psychologischen Befindlichkeiten, in denen sich gesellschaftlich festgeschriebene Rollenbilder und Gewaltwahrnehmungen widerspiegeln, sind ein Aspekt der Geschichte. Ein anderer zielt auf Lösungsangebote. Indem Kaiser – anders als im Roman – die Podcasterin Kelly (Shari Asha Crosson) einführt, die Anna und Jonas ausführlich interviewt und darüber hinaus auch den gemeinsamen Freund Hannes, Annas Mitbewohnerin und Jonas‘ Mutter befragt, wird klug eine Diskurs-Ebene in die Narration eingebaut, die besonders deutlich macht, wie komplex diese sehr spezielle Kommunikation einer Vergewaltigung ist: Da sind zwei Menschen, die eine gemeinsame intellektuelle Basis haben, die beide mehr oder weniger integer sein wollen, die in eine Art lustvollen Wettbewerb geraten, bevor sie zu Gegnern werden. Anna und Jonas treffen sich nur noch ein einziges Mal zufällig in einem Supermarkt. Die Szene wird – wie andere auch – zwei Mal erzählt, so wie Anna sie wahrgenommen hat, später dann aus Jonas‘ Sicht. Die Interviewsituation liefert Informationen und strukturiert die Gefühle. Hätte Kaiser dagegen die beiden Hauptfiguren aufeinander losgelassen, wäre das Drama wohl in ein wenig sinnstiftendes emotionales Chaos ausgeartet. So aber kann der Zuschauer in Ruhe zuhören, in die Gesichter blicken, in denen es zwischen Anna und Kelly (beide großartig besetzt!) mitunter magische Momente großen Einverständnisses gibt, und sich nach und nach selbst sein Bild machen.
Die offene, multiperspektivische Narration und der Verzicht auf jegliche Art von Voyeurismus erweisen sich – auch für den Betrachter – als zwingend. Und doch könnte diese elaborierte, fast dokumentarisch anmutende Erzählweise und das filmische Ausblenden der dramatischen Ereignisse in jener Nacht gerade denen in die Karten spielen, die sich auf die juristische Sichtweise („Aussage gegen Aussage“) zurückziehen. Schuld und Gerechtigkeit aber sind nicht die Begriffe und Werte, um die es in „Nichts, was uns passiert“ vornehmlich geht. Psychologisch geht es eher um eine Art der Selbstermächtigung. „Du hast dir deine Geschichte zurückgeholt“, sagt Kelly am Ende zu Anna. Die Podcasterin hat dazu beigetragen. Und auch die Intention des Films, den gesellschaftlichen Diskurs über sexualisierte Gewalt zu vertiefen, geht auf ihr Konto. Und filmästhetisch maßgeblich dazu bei trägt die Dramaturgie – mit ihrer sprunghaften und doch homogen wirkenden Erzählung, in der die Zeiten und die Standpunkte stimmig ineinanderfließen, emotional moderiert von der unglaublich präsenten Emma Drogunova. Sie macht Anna zu einer jungen Frau, die wir aus dem echten Leben zu kennen glauben, die uns im öffentlich-rechtlichen Fernsehen in einer so tragenden Hauptrolle – ohne Anbindung an eine Krimi-Story – aber leider nur höchst selten begegnet.