Die 14-jährige Marie (Dockhorn) wartet übellaunig auf ihren Vater Richard (Wiesnekker), der sich mal wieder verspätet. Es ist ihr Geburtstag, wie sich später herausstellt, doch Richard will vor dem abendlichen Kinobesuch mit der Tochter noch schnell seine demenzkranke Mutter Hilde (Christine Ostermayer) ins Altersheim verfrachten. „Davon weiß ich nichts“, sagt die alte Dame, der es zwischendurch passieren kann, dass sie den eigenen Sohn mit seinem toten Bruder verwechselt oder die eigene Enkelin nicht wiedererkennt. Aber Hilde hat trotz aller Vergesslichkeit ein klares Ziel: die Schwarze Madonna in Altötting um Beistand bitten. Und während der chaotische Richard ihre Sachen für den Umzug packt und Marie den gelangweilten Teenager gibt, macht sich Hilde in Hausschuhen, Kittel und Strickjacke unbemerkt auf den Weg. Zu Fuß ins 100 Kilometer entfernte Altötting.
„Nebenwege“ ist ein sympathisches, wenn auch schlicht gebautes Roadmovie durch Niederbayern. Seit Hape Kerkelings Bestseller „Ich bin dann mal weg“ ist Pilgern ja nicht ganz unpopulär, insofern wirkt es so, als wollte Michael Ammann bei seinem Langfilm-Debüt von dem Hype profitieren. Aber Glauben und Religion spielen hier kaum eine Rolle, das Pilger-Thema dient nur als vordergründiges Motiv (und die Pilger, denen Hilde, Marie und Richard unterwegs begegnen, sind ausgesprochen unfreundlich). Das Familien-Trio ist jedenfalls auf eigenen Pfaden unterwegs, kreuz und quer, denn man hat bis Altötting einiges aufzuarbeiten: Marie fühlt sich nicht zu Unrecht vernachlässigt von den getrennt lebenden Eltern. Und das Verhältnis von Richard und Hilde wird durch eine lange zurückliegende Tragödie belastet. Richards jüngerer Bruder starb mit 17 bei einem Autounfall. Hilde trägt das Foto des verstorbenen Sohnes immer bei sich, Richard spielte stets nur die zweite Geige.
Schroff und hart kann diese Alte sein, trotzig und sehr aufrecht marschiert sie durch die niederbayrische Landschaft. Das ist rührend und manchmal auch komisch, weil Hilde in den unpassendsten Momenten Erinnerung und Orientierung völlig verliert, um dann wieder mit überraschenden Lichtblicken für eine Wende zu sorgen. Eine schöne, facettenreiche Rolle für Christine Ostermayer (Bogners „Madame Bäurin“), die bei den Dreharbeiten 75 Jahre alt war. Ammann legt jedoch mit seinem Langfilm-Debüt keinen weiteren Alzheimer-Film vor. Er verknüpft in diesem Roadmovie verschiedene Familienkonflikte in einem abrupten, nicht immer eleganten Wechsel aus sentimentalen, humorvollen und spannungsreichen Szenen.
Wenig Lob zum Kino-Start. Gelegentlich wurden Ammanns „Zuneigung für seine Figuren“ (textezumfilm.de) oder „einige rührende Momente für Freunde des Emotionalen“ in einer „ganz schönen“ Tragikomödie (film-rezensionen.de) hervorgehoben. Silvia Hallensleben dagegen kritisierte im „Tagesspiegel“ scharf: „Während sich das Trio erwartungsgemäß von der dysfunktionalen zur versöhnten Teilfamilie mausert, steht die vom Pilgern erstrebte Entschleunigung bloß auf dem Drehbuchpapier.“ Ähnlich urteilte Martin Schwickert bei „epd film“: „Über weite Strecken sieht der Film aus wie sein eigener Förderantrag.“
Beispielhaft dafür ist die Episode mit Tilo Prückner als gastfreundlichem, aber heruntergekommenem Landwirt Ferdl. Das Trio darf die Nacht in seinem Stall zubringen, es gibt ein Abendessen, Ferdl spielt Zither, singt improvisierte Sauflieder und fordert seine Gäste auf, ebenfalls Verse zu erfinden – ein Stück skurriler Folklore, durchaus originell. In der Nacht will sich Ferdl jedoch im Heu an Hilde heranmachen, und als Richard ihn aus dem Stall jagt, kehrt er, mit einem Gewehr wild um sich schießend, zurück. Nach dieser derben Posse ändert sich wieder – und ziemlich – unverhofft die Tonlage: Das Trio sitzt erschöpft unter einem Wegekreuz, und bei Hilde bricht die Verzweiflung durch: „Und du hilfst mir a net“, ruft sie erbost der Jesusfigur zu und schlägt sich den Kopf am Holz blutig.
Wie auf jeder Reise gibt es also Höhen und Tiefen, doch die Grundhaltung des Films ist optimistisch. Auf den Imbissbuden-Besitzer, der Richard wegen fehlenden Bargelds eine Ohrfeige verpasst, folgt der freundliche Wirt, der die Reisenden mit Geld und Proviant versorgt. Schön sind die Momente der Lebensfreude, die Karussellfahrt oder der Tanz zu Heintjes „Mama“ (in einer niederbayrischen Rock-Version). Ansonsten wird das heitere musikalische Grundthema leider wie in einer Art Dauerschleife in beinahe jede Dialog-Lücke eingewoben – dabei könnte nicht nur eine Wallfahrt durchaus mal etwas Stille vertragen.
Auch gönnt sich das Drehbuch einige simple Lösungen. Das Auto bleibt stecken, als es nicht mehr gebraucht wird; das Trio verliert sich aus den Augen und läuft sich wunderbarer Weise doch wieder über den Weg; die Geldbörse rutscht aus der Jacke, dafür findet Hilde plötzlich kurz vor Schluss einen Geldschein im Kittel. Außerdem muss Richard zahlreiche einseitige Telefonate führen, weil in seiner Münchner Firma ein großes Geschäft zu platzen droht. Menschen, die sich aufgeregt mit ihrem Mobilfunkgerät unterhalten, sind aber nicht sehr originell. Richards berufliche Probleme wirken wie ein Anhängsel der Geschichte. Auch das Happy End gerät nach harmlosen Turbulenzen mit zwei Dorfpolizisten ein bisschen zu harmonisch, da sieht die Inszenierung endgültig nach „Um Himmels willen“ aus.
„Nebenwege“ ist also – trotz der den Film prägenden Bilder der sommerlichen Landschaft – sicher kein großes Kino, sondern eher geeignet als Wohlfühl-Reise im Fernseh-Sessel mit einigen ernsten Anklängen. Interessant allerdings, dass in manchen Kritiken nach der Kino-Premiere im Juli 2014 nicht der Hinweis auf Ammanns Fernseh-Arbeit fehlen durfte, und nicht nur bei Michael Meyns‘ Rezension bei „programmkino.de“ klang es so, als wäre damit schon einiges erklärt: „Bislang schrieb und entwickelte der Filmemacher Vorabendserien wie ,Unter Uns‘ oder ,Verbotene Liebe‘, was nicht weiter erwähnenswert wäre, wenn es nicht zum Hauptproblem von ,Nebenwege‘ führen würde: dem Erzählton. Unterlegt von leichter Musik plätschert der Film oft gemächlich dahin, zeigt das Pilger-Trio ausführlich beim Pilgern, um dann ganz unvermittelt zu teils extremen dramatischen Momenten zu wechseln.“