Einmal Profiler, immer Profiler. Joe Jessen (Ulrich Noethen) kann’s nicht lassen. Wegen seiner fortschreitenden Parkinson-Erkrankung wollte sich der Psychiater von seiner Beratertätigkeit für die Hamburger Polizei zurückziehen. Doch weil seine Frau Nora (Petra van de Voort) zum ersten Mal nach der Trennung mit ihm und ihrer gemeinsamen Tochter Lotte (Lilly Liefers) längere Zeit an der Nordsee machen möchte, könnte er das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Denn in einem verzwickten Doppelmord benötigt Anna Bartholomé (Marie Leuenberger), die langjährige Kollegin von Vincent Ruiz (Juergen Maurer), Unterstützung. Die Kommissarin, die einst um ein Haar im Dienst ihr Leben lassen musste, hat sich offenbar ganz bewusst von Hamburg ins beschauliche Fischerstädtchen Husum versetzen lassen. Doch verrückte Psychopathen gibt es auch hier. Eine Mutter und ihre 16jährige Tochter sind brutal in ihrem Haus ermordet worden. 35 Messerstiche lassen auf eine große Wut des Täters schließen. Der Ex (Tim Wilde), den die Scheidung seine Existenz gekostet hat, hätte ein Motiv. Aber bringt ein Vater seine Tochter um? Auch dem Spanner (Tom Lass) von nebenan sind die Morde eher nicht zuzutrauen. Vermutlich hat die Frau, die nach der Scheidung das Leben in vollen Zügen genoss, sich den falschen Mann mit nach Hause genommen.
Zum siebten Mal ist Ulrich Noethen in der ZDF-Reihe „Neben der Spur“ als Hamburger Psychiater im Einsatz. Seelisch nicht mehr so weit unten wie in der vorherigen Episode “Erlöse mich“, aber nicht in jeder Situation Herr der Lage. Geblieben ist seine Expertise als Kenner der kranken Psyche, geblieben sind aber auch seine zittrigen Hände. In „Schließe deine Augen“ ist Jessen auf der Zielgeraden reichlich Kamikaze-haft unterwegs. Nachdem ein Hobby-Profiler (Rafael Gareisen), der Jessens Student war und jetzt im Internet abstruse Mördertheorien aufstellt, sich der Polizei als Lockvogel zur Verfügung stellen will, übernimmt stattdessen der Psychiater diese Rolle. In einer Pressekonferenz provoziert er den Täter. „Warum kommen Sie auf die Idee, dass Sie mir Furcht einjagen könnten? Dieses ganze Getue, mit dem Sie Ihre Verbrechen moralisch rechtfertigen wollen, ist nichts anderes als ein weiterer Schritt auf ihrem miserablen Lebensweg.“ Kommissar Ruiz ist fassungslos. Ist dem Psychiater sein Leben so wenig wert? Hat es mit dem medizinischen Befund seiner Frau zu tun? Oder leidet er an maßloser Selbstüberschätzung? Denn das von ihm erstellte Täterprofil ist erschreckend gut: 30 bis Mitte 40, starker Sexualtrieb, hohes Aggressionspotenzial, sozial kompetent, hochintelligent, sehr kräftig. Jessen wird diese Physis noch zu spüren bekommen.
Auch wenn der Zuschauer keine psychologisch plausible Antwort für dieses lebensgefährliche Vorgehen der Hauptfigur bekommt – der Spannung tut eine solche Bedrohungssituation immer gut. Und dass die Liebsten der Hauptfigur beide im Spiel sind, sich also in unmittelbarer Nähe des Psychopathen befinden, dürfte auch kein Zufall sein. Fragt sich nur, wen er sich von den beiden ausgeguckt hat? Davor gibt es aber noch ein einheimisches Opfer. Dramaturgisch ist „Schließe deine Augen“ also leicht zu durchschauen. Rusnak arbeitet – ähnlich wie der Mörder – nicht mit allzu feiner Klinge. Der Täter wird in der zweiten Hälfte des Films offen geführt, wodurch sich eine Art (Fern-)Duell ergibt. Dem Suspense kommt das zugute. Der Zuschauer besitzt im Übrigen von Anfang an ein Informationsplus gegenüber den Ermittlern. Im Intro sieht man die „abenteuerlustige“ Frau, die später Opfer wird, bei einem bizarren Blind-Date. Das Mordmotiv wird in der Szene vorweggenommen: Der Killer sieht sich als „ein Hüter von Sitte und Anstand“. Dieser missionarische Eifer zeigt sich auch bei anderen Überfällen in der Gegend: Frauen wurden bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt, als Ehebrecher beschimpft, und der vermummte Täter hat sie stigmatisiert, indem er ihnen eine Wunde auf die Stirn ritzte. Jessen bezweifelt jedoch, dass es sich um ein und denselben Täter handelt.
Die Geschichte von „Schließe deine Augen“ gehört zu den schwächeren dieser immer sehenswerten ZDF-Reihe, und auch dramaturgisch und filmisch ist diese Episode eher wenig raffiniert gestaltet. Immer wieder gibt es Spannung-mit-Ansage-Szenen, in die die Jessen-Tochter verwickelt ist; allerdings ist die Auflösung meist eine etwas andere als erwartet. Auch eine nächtliche Szene im Mordhaus wirkt zwar zunächst etwas (arg um Schrecken) bemüht, bringt aber ein Motiv ins Spiel, das später den Fall entscheidend weiterbringen wird. Am intensivsten ist der Film, wenn die Hauptfigur allein agiert. Gemeint ist damit nicht die Situation, in der Jessen erwartungsgemäß in eine Falle tappt, schon eher der Showdown, den er mal wieder allein in die Hand nimmt, ganz besonders aber die Szenen, in denen er sich den Fall durch den Kopf gehen lässt. So navigiert er am Laptop zwei Filmminuten durch das Blut-Haus, sieht dort aber nicht nur die Leichen liegen, sondern imaginiert (?) sich die Toten wieder zum Leben. Das sind sehr intensive Momente, in denen der Zuschauer sich selbst ein Bild machen kann und nicht wie bei herkömmlichen Tatort-Begehungen sich das konventionelle Gequatsche der Kommissare inklusive Spusi-Kollegen anhören muss. Stark auch eine einminütige Plansequenz, in der Jessen im Halbdunkel das Täterprofil der Kommissarin als Sprachnachricht aufnimmt. Diese Szenen machen deutlich, was auch diese „Neben-der-Spur“-Episode von den ZDF-Gebrauchskrimis unterscheidet: Ulrich Noethen!