Neben der Spur – Erlöse mich

Noethen, Bederke, Klaschka, Rusnak. Die Existenz hängt an einem seidenen Faden

Foto: ZDF / Marion von der Mehden
Foto Rainer Tittelbach

Wer rettet wen? Wem gilt der Episoden-Titel „Erlöse mich“? Und auf wen ist der Reihen-Titel „Neben der Spur“ (ZDF / Network Movie) gemünzt? Der Psychiater Joe Jessen war jedenfalls noch nie so weit unten. Aber auch eine attraktive Ex-Patientin von ihm scheint sich in einer aussichtslosen Zwangslage zu befinden: zwei Kinder, der verschuldete Mann verschwunden und sie zur Prostitution gezwungen. Als sie unter Mordverdacht steht, versucht Jessen ihr zu helfen. Aber ist er noch Herr seiner Sinne? Und was, wenn sie ihn nur manipuliert? Die sechste Episode der Reihe nach den Romanen von Michael Robotham ist ein atmosphärisches Krimi-Drama, ein ebenso melancholischer wie spannender Hamburg-Film, bei dem Geschichte & Dramaturgie, die Bilder & das Spiel bestens aufeinander abgestimmt sind.

Andere analysieren und ihnen helfen kann er gut, bei sich selbst aber versagen seine Methoden. Jetzt ganz besonders. Joe Jessen (Ulrich Noethen) hat kürzlich einen Mann erschossen. „Sie haben einen Mörder getötet und ein Mädchen gerettet“, versucht ihn Kommissar Ruiz (Juergen Maurer) zu beruhigen. Es gelingt ihm nicht – zu verfahren ist die gesamte Lebenssituation des Psychiaters. Seine Frau (Petra van de Voort) hat ihn verlassen, seine Tochter (Lilly Liefers) braucht ihn nicht mehr, und seine Parkinson-Erkrankung schwebt weiterhin wie ein Damoklesschwert über seiner Existenz. Außerdem geht ihm Gregor Römer (Gerhard Liebmann), der Mann, den er erschossen hat, nicht mehr aus dem Kopf. Ähnlich ergeht es ihm auch mit einer Patientin, die ihre Therapie aus finanziellen Gründen abbrechen muss: Milena Lorenz (Anna Bederke) hat zwei Kinder und ist sichtlich überfordert, nachdem ihr Mann vor sechs Monaten spurlos verschwunden ist. Hinterlassen hat er ihr enorme Spielschulden, die sie bei dem Gläubiger, einer berüchtigten Kiez-Größe, als Prostituierte abarbeiten muss. Jessen will der attraktiven Frau helfen. Er verfolgt sie, weil er vermutet, sie könnte sich etwas antun, fühlt sich aber offenbar auch erotisch von ihr angezogen. Dann sterben zwei Männer – und sie hätte für beide Morde ein Motiv. Dass sie nicht nur Opfer, sondern auch Täter sein könnte, schließt Jessen im Gegensatz zur Polizei aus. Doch wie sehr kann er sich in seiner aktuellen Verfassung noch verlassen auf seine professionelle Intuition?

Neben der Spur – Erlöse michFoto: ZDF / Marion von der Mehden
Nur selten beim gemeinsamen Ermitteln: Joe Jessen (Uli Noethen) und Ruiz (Jürgen Maurer) untersuchen die Wohnung. Was will Köhler von Milena?

Wer rettet hier wen? Wem gilt der Episoden-Titel „Erlöse mich“? Und auf wen ist der Reihen-Titel „Neben der Spur“ gemünzt? Wenn man die Hauptfigur so sieht, wie sie sich durchs ungemütliche Hamburg bewegt, stets einen Fußbreit an irgendeinem Abgrund und begleitet von den Stimmen des Ermordeten, die ihm ein schlechtes Gewissen machen wollen, vermittelt sich der Eindruck, dass dieser renommierte Seelendoktor noch nie so weit unten war. Andererseits könnte ihn diese Frau und seine Hilfe für sie wiederaufrichten. Schon ein Mal haben seine Sitzungen Milena Lorenz vom Selbstmord abgehalten; jetzt kann er außerhalb der Couch etwas für sie tun. Die gegenseitige Anziehung ist verständlich: Beide befinden sich in einer ähnlichen Krisensituation. Jessen ist anfällig für die Signale, die seine Ex-Patientin aussendet. Doch was, wenn der Wunsch zu helfen in weiblicher Manipulation seinen Auslöser hat? Was, wenn die Frau die Stärkere ist? Als „total gestört“ bezeichnet sie ihr Ex-Mann, der von ihr verraten wurde und in den Knast musste. Ihre erschütternde Krankengeschichte reicht zurück bis in ihre Kindheit. Jessen holt biografische Informationen bei einem Psychiater (Rüdiger Vogler) ein, bei dem Lorenz als Jugendliche in Behandlung war. Die entscheidende Frage ist schließlich: Sind dieser schwer traumatisierten Frau zwei Morde zuzutrauen?

„Erlöse mich“ ist die mittlerweile sechste freie Verfilmung der Joseph-O’Loughlin/Vincent-Ruiz-Reihe des Australiers Michael Robotham, die es bisher auf elf Romane gebracht hat. Weniger denn je ein Ermittlerkrimi. Kommissar Ruiz und seine Kollegin Anna Bartholomé (Marie Leuenberger) bekommen sehr wenig zu tun. Es gibt kein einziges Verhör. Dafür sehen wir den Psychiater ein ums andere Mal im Alleingang, nicht im Dienst der Polizei, sondern in eigener Sache unterwegs – auf den Straßen von Hamburg, am Hafen, auf Brücken, an S-Bahnstationen, später dann bei der Fahrt aufs Land. Immer wieder sucht der gebrochene Held im Dunkeln nach Wahrheit und Erleuchtung – mit zittriger Hand. Nachtaktiv ist auch Milena Lorenz. Eines Abends steht sie vor seiner Tür. Und sie küsst ihn. Nur eine Wunsch-Projektion oder Realität? Hat sie mit dem Psychiater die Nacht verbracht? Oder ist das eine von jenen Situationen, in denen Jessen seinen Phantasien und (Alp-)Träumen erliegt?

Neben der Spur – Erlöse michFoto: ZDF / Marion von der Mehden
Das Objekt des Begehrens: Milena Lorenz (Anna Bederke) ist eine Frau mit Vergangenheit. Ihre Krankenakte reicht bis in ihre Kindheit zurück. Hat sich die einst schwer traumatisierte Frau gefangen oder wüten noch immer wilde Dämonen in ihr?

Geschichte und Dramaturgie sind in dieser „Neben-der-Spur“-Episode gut aufeinander abgestimmt. Weil Plot wie Charaktere und auch viele Szenen dem Prinzip der Reduktion gehorchen, bedarf es anderer Elemente, um die Handlung spannungs- und abwechslungsreich in Gang zu halten. Da ist beispielsweise der tote Gregor Römer, der Jessen (in Gestalt von Gerhard Liebmann) lange Zeit nicht von der Seite weicht. Außerdem gibt es immer wieder Rückblenden und Erinnerungsbilder bis in die Kindheit der Patientin zurück. Durch diese subjektiven Montagen kann man als Zuschauer hautnah an der Verunsicherung der Hauptfiguren teilhaben. Das Ganze wirkt nie unübersichtlich oder gar irritierend, sondern sorgt für einen atmosphärischen Flow, der besonders auch die zahlreichen, in kühles Blau getauchten Nachtszenen auszeichnet. Stimmungsvoll sind vor allem die melancholisch angehauchten Outdoor-Szenen, in denen die Kamera angenehm auf Distanz geht. Spannend wird es dagegen häufig in den mit der Enge spielenden Innenraum-Szenen: So birgt das Haus, in dem Joe Jessens Patientin wohnt, manch düsteres Geheimnis. (Text-Stand: 5.1.2020)

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Reihe

ZDF

Mit Ulrich Noethen, Juergen Maurer, Anna Bederke, Marie Leuenberger, Johannes Krisch, Petra van de Voort, Gerhard Liebmann, Kailas Mahadevan, Lilly Liefers, Rüdiger Vogler, Anna Shirin Habedank, Eray Egilmez

Kamera: Ralf Noack

Szenenbild: Marcus A. Berndt

Kostüm: Helmut Ignaz Meyer

Schnitt: Dirk Grau

Musik: Christoph Zirngibl

Redaktion: Daniel Blum

Produktionsfirma: Network Movie

Produktion: Jutta Lieck-Klenke

Drehbuch: Mathias Klaschka – frei nach dem Roman von Michael Robotham

Regie: Josef Rusnak

Quote: 5,84 Mio. Zuschauer (17,3% MA); Wh. (2021): 3,41 Mio. (13,2% MA)

EA: 20.04.2020 20:15 Uhr | ZDF

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