Es blutet, eitert und schuppt. Der 17jährige Guido leidet seit seiner Kindheit an Neurodermitis. Nach einem schweren Schub entschließt er sich zu einer Therapie – und langsam versteht er, was es mit seiner Krankheit auf sich hat. Sein Vater geht seit Jahren fremd; die Mutter hat sich scheinbar damit abgefunden, sie hält still, trinkt heimlich. Guido hat stellvertretend ihre seelischen Wunden ausgetragen. Nun muss er schauen, dass es ihm gut geht. Er zieht in eine WG und lernt Rudi kennen, einen vermeintlich coolen Typen. Seine unverstellte Art hat heilende Kräfte. Es juckt nicht mehr und Guido fühlt sich zum ersten Mal wohl in seiner Haut.
Ingo Haeb, der sich bereits als Autor herzerfrischender Komödien wie „Am Tag, als Bobby Ewing starb“ und dem gerade angelaufenen „Die Schimmelreiter“ einen Namen machte, hat sich mit seinem autobiografischen Regie-Debüt „Neandertal“ in ernsthaftere Gefilde begeben. Und er hat sich viel vorgenommen. Neurodermitis ist für ihn mehr als ein Seelen-Spiegel. Wenn die Haut verrückt spielt, ist die Gesellschaft nicht unschuldig, insbesondere die Gesellschaft, die der Filmemacher selbst in der Jugend zu spüren bekam: der Film spielt 1990.
Foto: ZDF / Tom Trambow
„Neurodermitis ist die Krankheit derer, die ein Problem haben, sich abzugrenzen und als solche eine Folge des humanistischen Erziehungsideals“, so Haeb. „Gerade unserer Generation wurde ständig eingeimpft, dass wir verantwortungsbewusst zu handeln hätten.“ Nach der Wiedervereinigung hieß das magische Wort: Solidarität. Und so kann sich Guido seiner „Krätze“ nicht erwehren. „Neurodermitiker ziehen unterbewusst die Probleme anderer auf sich, finden aber keinen Weg, diese zu verarbeiten.“ Doch Guido begreift auf seinem Weg zum Erwachsenwerden die Krankheit als den Preis für seine Sensibilität.
Auch wenn einen beim Zuschauen des Öfteren der Juckreiz überfällt, so folgt man doch gespannt den 100 Minuten dieser intelligenten Coming-of-Age-Variante. Der Film umschifft die Klippen des Befindlichkeitstrübsinns, weil das realistisch beiläufige Spiel die im Drehbuch bisweilen deutlich ausgestellten Botschaften vergessen lassen. Jacob Matschenz beweist einmal mehr seine Klasse als jugendlicher Seelen-Darsteller und Andreas Schmidt gewinnt hier seinem Spezialgebiet, dem Freak-Fach, eine neue, gewohnt physische Seite ab. Sehr überzeugend spielen auch Johanna Gastdorf als still und verdrängt leidende Mutter und Falk Rockstroh als sich das eigene Leben schön redender Vater gegen ihre Buhmannrollen an.
Grobdramaturgie und Filmästhetik ordnen sich deutlich den intensiv gespielten Szenen unter. „Neandertal“ geht im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut, obwohl Ingo Haeb auf eine emotionalisierende Darstellung verzichtet. Die Kamera bleibt auf Distanz. So wie auch der Held Abstand hält zu seiner Umgebung. Körperkontakt wird gemieden. Selbst gesundet bleibt Guido Beobachter, einer, der sich ein Bild macht von der Welt. Allein im Drogenrausch und im hämmernden Heavy-Metal-Gedröhne ergeben sich Momente der Nähe. (Text-Stand: 22.5.2009)