Hamburg im Ausnahmezustand. Ein Orkan mit Windstärke 12 kündigt sich an. In wenigen Stunden steht die Stadt unter Wasser. Fünf Tage Ausgangssperre wurden vorsichtshalber angeordnet. Ausbaden muss das Ganze der Kriminaldauerdienst: Erichsen (Armin Rohde), Tülay Yildrim (Idil Üner), Lulu Koulibaly (Sabrina Ceesay) und der Chef des Trios, Ömer Kaplan (Özgür Karadeniz), sind im Einsatz in der Roten Zone, das Zuhause der sozial Schwachen, in der das Hochwasser besonders verheerend sein wird. Den ersten Zwischenfall gibt es bereits im Umland: ein Verkehrsunfall mit mehreren Toten, dem flüchtigen Schwerverbrecher Krakoff (Shenja Lacher) und zwei Schimpansen, die ihre Freiheit genießen. Außerdem fehlen zwei Dienstwaffen. Das zweite Problem sind Luka (Slavko Popadic) und Moses (Ben Andrews Rumler): Die beiden Rapper haben mit ihrem Drogen-Lieferservice per Drohne – besonders in der aktuellen Ausnahmesituation – eine Marktlücke aufgetan. Da es ihnen allerdings an Stoff fehlt, überfallen sie noch schnell Boxer-Legende und Kiez-Größe Micky Mommsen (Roland Koch). Der kann sich mit Hilfe seiner Ex Marylou (Demet Gül) befreien und heftet sich alsbald an die Fersen der Nachwuchs-Dealer. Im Schlepptau Krakoff, der mit seinem „Kumpel“ noch eine Rechnung zu begleichen hat. Dagegen ist das dritte Problem der KDDler, Trickbetrügerin Bonnie Berger (Sina Martens), die in Windeseile eine Unmenge gefälschter Versicherungspolicen abgeschlossen hat, ein kleiner Fisch.
Eine schöne, leicht chaotische Plot-Konstruktion hat sich Lars Becker mal wieder für seine „Nachtschicht“ ausgedacht. Nachdem er in der vorhergehenden Episode „Es lebe der Tod“ die Pandemie in Form der Maskenpflicht konkret in die Handlung eingebaut hat, spukt Corona in „Die Ruhe vor dem Sturm“ eher indirekt durch die Szenerie. Der Autor Becker hat bei dieser Geschichte offenbar alle Eventualitäten mitgedacht (Stichwort: Drehen unter Pandemie-Bedingungen), damit der Regisseur Becker keine bösen Überraschungen während der Dreharbeiten erlebt. Und so gibt es wenige Schauplätze, ein für „Nachtschicht“-Verhältnisse sehr überschaubares Ensemble und innerhalb der Szenen kein „Leben“ neben der Haupthandlung. Natürlich sind auch die Corona-Referenzen in der Geschichte nicht zu übersehen: Da wie dort gibt es behördliche Auflagen, aus zehn Tagen Quarantäne werden fünf Tage Ausgangssperre, und es gibt Menschen, die die Gefahren nicht ernst nehmen.
Während in anderen Krimi-Formaten ein solches „Abspecken“ in den letzten Monaten häufig zu einem konzentrierten Kammerspieleffekt geführt hat, bekommt die Reduktion dieser 18. „Nachtschicht“-Episode weniger gut; es fehlt an vielem, was diese wegweisende Krimi-Reihe für gewöhnlich auszeichnet. Der gesellschaftliche Ausgangskonflikt bringt es mit sich, dass die Interaktionen, die Befragungen, die Verhöre etwas greller, etwas lauter von statten gehen und dass für Witzeleien nicht viel Zeit bleibt. Das mag schade sein – aber Lars Becker ist ohnehin kein Filmemacher der feinen Klinge. Der Hamburger Genre-Liebhaber braucht das Chaos, seine Filme brauchen Tempo, Typen, Zirkus, Spektakel. Unter die Lupe sollte man seine Filme nicht legen, man muss sie fühlen, sich vom Flow der Situationen, der Bilder, der Musik davontragen lassen. Leider ist von alldem diesmal wenig zu sehen und wenig zu hören (einzig David Bowies „Space Oddity“ bleibt vom Soundtrack in Erinnerung). Auch dramaturgisch ist der Film nicht das Gelbe vom Ei: Verhörszenen, in denen die Polizei weniger weiß als der Zuschauer, sind nicht wirklich sexy. Selbst den Bedrohungsszenen fehlt es an innerer Spannung. Und die Diskussionen über „Migranten-Bonus“ und Racial Profiling – so wichtig und richtig sie sind – wirken wie eine Pflichtübung in Sachen political correctness. Dass das Finale verpufft – das allerdings kann man Becker zugutehalten, als Bruch mit den Sehgewohnheiten. Alle erwarten einen knalligen Showdown, doch der Zuschauer hat die Rechnung ohne Krakoff gemacht. Und der ist „Nachtschicht“-like nicht der Hellsten einer. Ebenso wie Kosmetikerin Marylou, die Demet Gül im Laiendarsteller-Sprachduktus angelegt hat. Ach ja, die Schauspieler! Dass Lars Becker alle bekommt, das gilt in Zeiten, in denen Netflix & Co mit dem Scheckheft wedeln, offensichtlich nicht mehr.
Keine Frage, hier spricht vor allem der enttäuschte Fan. Die Aufzählung der Defizite von „Die Ruhe vor dem Sturm“ ist denn auch Kritisieren auf hohem Niveau: Dieser Alles-in-einer-Nacht-Krimi ist immer noch sehr viel besser und vor allem cooler – sprich: überraschender, unkonventioneller, vielfältiger – als die unzähligen Krimireihen-Formate, die auf das Whodunit-Prinzip setzen. Und zwei Figuren, die die Beckersche Unberechenbarkeit typisch verkörpern, gibt es ja schließlich auch: Da ist der ölige Micky Mommsen und Killer Krakoff, der immerhin ein paar Coen-Brüder-Filme gesehen haben dürfte. Gleiches gilt für deren Darsteller; besonders Shenja Lachers Psychopath wird zunehmend zum Motor der Handlung und hält die Spannung am Leben. Tote gibt es auch. Den ersten erwischt es nach einer Stunde – und der zweite folgt sogleich. Über solche Szenen kann man als Zuschauer stolpern, man kann diese Lakonie, mit der hier gemordet wird, zynisch finden oder für ein billiges Mittel zur Charakterisierung halten. Das aber gehört zur Genre-Mixtur von Lars Becker, die manchmal ganz schön schmutzig sein kann, Betonung auf schön. (Text-Stand: 3.9.2022).