David kommt vom Einsatz in Afghanistan zurück. In seinem Heimatort im Schwarzwald sind alle überglücklich. Noch lächelt der junge Mann und zeigt Bilder vom „Friedenseinsatz“ her, als ob es ein Abenteuerurlaub gewesen wäre. „Warum bist du denn da bewaffnet?“, fragt die Mutter irritiert. „Ein richtiger Held“, schwärmt die Freundin. Alle machen sich ein falsches Bild – und die Pressestelle der Bundeswehr hilft kräftig nach: Sein tapferer Einsatz soll anderen Soldaten das Leben gerettet haben. In Wahrheit hat er in Panik ein Kind erschossen.
Erste Anzeichen für eine so genannte „Posttraumatische Belastungsstörung“ sind unverkennbar: David kann nicht mehr schlafen, hat keine Lust mehr auf Sex und er reagiert zunehmend gereizt. Keiner will es wahrhaben. Auch David verdrängt und beschwichtigt. Seelenruhig wäscht er Nacht für Nacht seine eingepinkelten Unterhosen, er schwänzt das Rückkehrerseminar und lässt die ihm verordnete Psychologin auflaufen.
David ist verstört. Er versteht sich selbst nicht mehr. Anstatt sich seine Seelenpein therapieren zu lassen, reagiert er mit Sprachlosigkeit, fügt sich körperliche Schmerzen zu oder er missbraucht seinen kleinen Bruder, um sich kurzzeitig besser zu fühlen. Jenen Benni, der seinen großen, starken Halbbruder vergöttert, versucht er, zu einer Härte zu erziehen, wie er sie im Bundeswehreinsatz kennen gelernt hat. In einer gefährlichen Mischung aus Selbsthass und Angst, Spiel und Gewalt lebt er im heimischen Schwarzwald sein Trauma aus, er holt den Krieg nach Deutschland und verletzt dabei schon wieder ein Kind. Dieses Mal seelisch.
„Nacht vor Augen“ ist nach „Willkommen zuhause“ und dem letzten „Bloch“ der dritte Heimkehrerfilm um einen deutschen Afghanistan-Soldaten, der in diesem Jahr im Fernsehen zu sehen ist. Man sollte sie nicht gegeneinander ausspielen, das explosive mit Ken Duken gegen das implosive Drama von Züli Aladag oder die Primetime-Filme gegen den „kleinen“ Debütfilm im Dritten. Alle drei sind überdurchschnittliche Filme.
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„Nacht vor Augen“ zeigt, dass die kleinere Form kein Nachteil sein muss. Der Film erzählt zu Beginn leise, beiläufig, ausschnitthaft, er nimmt sich Zeit. Umso heftiger empfindet man später die Ausbrüche von Gewalt. Aber auch davor weiß die Geschichte von Brigitte Maria Bertele und Johanna Stuttmann zu fesseln: psychologisch spannend wird von einer ungewöhnlichen Symbiose und von den Projektionsspielereien zweier ungleicher Brüder erzählt. Das ist toll gespielt von Hanno Koffler (sehr physisch) sowie dem während der Dreharbeiten erst neunjährigen Jona Ruggaber – und man ist sich nie so ganz sicher, wohin die Reise in diesem Film gehen wird. (Text-Stand: 19.10.2009)